6,5 Millionen Debile und der Heldenplatz
Thomas Bernhards „Heldenplatz“ ist ein vielschichtiges Stück, das 1988 einen Skandal in Österreich verursachte. Das Bild, das er von der Republik zeichnete, wurde bestätigt.
„Wir haben doch 1938 am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn man allein gelassen wird”, sagte der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg in Bezug auf den Ukraine-Russland Konflikt, der sich mittlerweile zu einem Krieg entwickelt hat. Allein gelassen fühlte sich Adolf Hitler sicherlich nicht, als er am 15. März 1938 am Wiener Heldenplatz sprach.
“Die älteste Ostmark des deutschen Volkes soll von jetzt ab damit das jüngste Bollwerk der deutschen Nation und damit des deutschen Reiches sein.” Hitler verkündete den “Anschluss” vor einer jubelnden Masse. “der glanze heldenplatz zirka/versaggerte in maschenhaftem männchenmeere” schrieb der Lyriker Ernst Jandl später über das Ereignis, das ihm die Sprache verschlug.
Anlässlich des 50. Jahrestags, das sogenannte “Bedenkjahr” 1988, schrieb Thomas Bernhard sein letztes Theaterstück “Heldenplatz”. Aufgeführt wurde es im November des Jahres anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Burgtheaters, das sich nur einen Steinwurf entfernt vom Heldenplatz befindet. Was folgte war “der größte Theaterskandal in der Geschichte der Zweiten Republik”. (Rühle)
Opferthese
Eben jene Republik wurde am 27. April 1945 ausgerufen. Vier Tage später verlautbarte die provisorische Regierung, dass es sich bei Österreich um das “erste freie Land, das der Hitlerischen Aggression zum Opfer gefallen ist”, handle. Die Geburt der “Opferthese”, die auch Schallenberg, trotz gegenteiliger Beteuerung, bediente.
Am 15. November 1961 wurde die “Opferthese” erstmals vor einem breiten Publikum künstlerisch aufgearbeitet. In “Der Herr Karl” porträtierte Helmut Qualtinger einen Wiener Opportunisten, der die Wirren der Zwischenkriegszeit stets zu seinem Vorteil nutzte. Das Stück wurde im ORF ausgestrahlt und hat “die Seele der DurchschnittsösterreicherInnen getroffen”. Es kam zu empörten Reaktionen von Zuschauer•innen. Man sah sich als Mitläufer•innen im Nationalsozialismus falsch dargestellt.
Also mir san alle […] am Ring und am Heldenplatz gstanden… […] Es war wie ein riesiger Heiriger…! Aber feierlich. Ein Taumel. (lacht) Na drum san Se ja achtsdreissig geboren…De Deitschen sein einmarschiert…de Polizei is gstanden mit de…also mit de Hakenkreizbinden…es war furchtbar…das Verbrechen, wie man diese gutgläubigen Menschen in die Irre geführt hat…
aus: Der Herr Karl (1961)
Eine erste wirkliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs geschah erst 1986 mit der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten. Dieser war Offizier in der Wehrmacht und soll laut einer historischen Kommission wiederholt im Zusammenhang rechtswidriger Vorgänge gewirkt und somit ihren Vollzug erleichtert haben. In eben jenen Kontext fällt Bernhards Stück “Heldenplatz”.
Der Skandal
Während an der Inszenierung gearbeitet wurde, war es der ausdrückliche Wunsch des Autors und des Verlags, dass vorab keine Zitate veröffentlicht werden. Nichtsdestotrotz erschienen bereits am 01. August 1988 erste Zitate ohne Kontext in einem Artikel der Literaturkritikerin Sigrid Löffler im profil. Sechs Wochen später schrieb sie erneut über das Stück, dessen Uraufführung um drei Wochen verschoben werden musste.
Schließlich erreichten einzelne Zitate in einer “abgesprochenen Aktion” die auflagenstarken Boulevardmedien: Am 07. Oktober titelte die Kronenzeitung: “Österreich, 6,5 Millionen Debile”.
Bernhard hatte bereits in der Vergangenheit in seiner typisch grotesken und übertriebenen Sprache über Österreich geurteilt. 1968 sprach er von der “Infamie und Geistesschwäche” der Österreicher•innen. Der Spiegel bezeichnete Bernhard damals als den “negative[n] Staatsdichter Österreichs”.
Doch die Debatte um “Heldenplatz” erreichte damit einen neuen Punkt auf der Skandalskala und das, obwohl das Stück noch nicht einmal uraufgeführt wurde, geschweige denn der Inhalt wirklich bekannt war.
Führende Politiker, wie der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk (SPÖ), schalteten sich ein und kritisierten Bernhard, sowie den Regisseur Claus Peymann scharf. “Paranoische Selbstdarstellung eines Menschen, der ein Leben lang nicht mit sich selbst fertig geworden ist”, urteilte Zilk über Bernhard.
Die konservative ÖVP und die rechtsextreme FPÖ forderten eine Zensur des Stückes. Das mit Steuergeldern subventionierte Burgtheater solle Stücke zeigen, die die Österreicher•innen sehen wollen und nicht solche, die sie beleidigen. Der aufstrebende FPÖ-Politiker Jörg Haider hetzte in Richtung des deutschen Claus Peymann, der das Stück in Auftrag gegeben hatte: “Hinaus aus Wien mit dem Schuft!”
Bernhard reagierte auf die Kontroverse auf seine Art und verkündete, dass er “Heldenplatz” noch einmal verschärft habe. Auf der Straße wurde er attackiert: “Umbringen sollt ma Ihnen!”
Am Tag der Uraufführung, dem 04. November 1988, prangte die Fotomontage eines brennenden Burgtheaters in der Neuen Kronen-Zeitung mit dem Slogan: “… uns ist nichts zu heiß.” Die Premiere fand unter Polizeischutz statt, es kam zu Demonstrationen. Sogar ein Misthaufen wurde vor dem Burgtheater abgeladen. Mit der Uraufführung war die Klimax des Skandals erreicht.
Der Inhalt
Worum geht es in “Heldenplatz” eigentlich? Das Theaterstück spielt im März 1988 in einer fiktiven Wohnung am Wiener Heldenplatz, die der jüdischen Familie Schuster gehört. Noch bevor der erste Akt beginnt, ist Professor Josef Schuster bereits tot. Er hat sich aus dem Fenster auf den Heldenplatz gestürzt.
Aus den Erzählungen wird deutlich, dass Josef Schuster ein Patriarch und Misanthrop war – ein Ungustl. Nach dem “Anschluss” 1938 emigrierte er mit seinem Bruder Robert Schuster nach Oxford, kehrte jedoch nach dem Krieg auf Bitten des Wiener Bürgermeisters und gegen den Willen seiner Frau Hedwig nach Österreich zurück. “Wir hätten schon bei der Ankunft am Westbahnhof umkehren sollen”, sagt Robert Schuster gegen Ende des Stücks.
Die Ereignisse des März 1938 haben ihre Spuren hinterlassen: Die Brüder Schuster haben ihre Heimat für immer verloren, Josefs Tochter Anna misstraut den Österreicher•innen und Hedwig leidet an akustischen Halluzinationen, bei denen sie das Geschrei der Massen vom 15. März 1938 auf dem Heldenplatz in ihrem Kopf hört.
Im Laufe des Stückes offenbaren sich die unverheilten Wunden der jüdischen Familie immer mehr. Anna und Professor Robert treten Schimpftiraden gegen Österreich und ihre Bevölkerung los. Die Österreicher•innen seien als Masse ein brutales und dummes Volk, die Wiener seien Judenhasser und die Situation schlimmer als 1938. Die Parteipolitik sei verkommen, die Sozialist•innen “katholische Nationalsozialisten” und der Republikanismus habe Österreich zu einer “geist- und kulturlose[n] Kloake” verwandelt. Wien, so ist Professor Robert überzeugt, habe seinen Bruder Josef in den Selbstmord getrieben.
Das Schicksal der jüdischen Familie Schuster, die an der österreichischen und damit an der eigenen Geschichte zerbricht, rückt die vorab erschienen Zitate in ein anderes Licht. “Wir haben alle gedacht wir haben ein Vaterland/aber wir haben keins” resigniert Professor Robert Schuster kurz vor Ende des dritten Aktes. Das Land, in das sie nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt sind, war nicht mehr wieder zuerkennen.
Die Interpretation
Zwar benutzt der ehemalige Gerichtsreporter Thomas Bernhard die Einzelschicksale jüdischer Personen um eine ganze Bevölkerung auf der Theaterbühne anzuklagen, gleichzeitig handelt es sich bei “Heldenplatz” aber um keine bloße Einteilung in schwarz und weiß.
Der innere Konflikt, der die jüdischen Figuren umtreibt, ist die Frage nach der eigenen österreichischen Identität. Nimmt man diese an, wird man eins mit dem Tätervolk, das so viel Schaden angerichtet hat. Verneint man diese Identität jedoch, leugnet man seine eigene Vergangenheit und die eigene Identität.
Ähnlich wie Österreich selbst idealisieren die Schusters die Vergangenheit der k. u. k. Monarchie – ein wichtiges Motiv des österreichischen Nationbuildings in der Nachkriegszeit. Nicht umsonst wirken die Figuren in “Heldenplatz” wie aus der Zeit gefallen und dem Jahr 1900 deutlich näher als dem Jahr 1988. Sowohl sprachlich in ihrem nachvollziehbaren Hass, als auch in ihrer nostalgischen Haltung sind sie den Österreicher•innen vielleicht näher, als ihnen lieb ist. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass einem das Schicksal der Figuren nahe geht, sie einem jedoch nicht sympathisch werden.
In Anbetracht der sensiblen Thematik kommt der Skandalisierung im Vorfeld der Aufführung eine besondere und unbeabsichtigte Rolle in dem Stück zu. Die Hysterie aus Politik und Medien fügte “Heldenplatz” eine Metaebene hinzu, die aus der fiktiven Gegenwart eine Brücke zur realen Gegenwart und zur Vergangenheit schlug und so zentrale Botschaften des Stückes bestätigte.
“Mit der Skandalisierung von Bernhards »Heldenplatz« hat sich die Waldheimat fünfzig Jahre danach eine zweite Blamage eingebrockt”, schrieb Sigrid Löffler im Spiegel. Und selbst die Neue Kronen-Zeitung wurde kleinlaut: “Dann würde das Bild wahr werden, das Bernhard von uns entwirft. Dann erst wären wir ein Sumpervolk”.