„Bella Ciao“ – mehr als „nur“ ein historischer Roman
Die Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert bietet genügend Stoff für einen Roman. Raffaella Romagnolo hat diesen hervorragend genutzt und legt mit „Bella Ciao“ ein fulminantes Buch vor.
Dieses Buch hat nicht nur einen Titel, der den meisten von uns als Lied wohlbekannt sein dürfte – dieses Buch, Raffaella Romagnolos Schreibstil selbst, ist wie Musik. Und nicht nur, weil die Geschichte in der (sozialistischen, später auch antifaschistischen) Arbeiterklasse Italiens während der beiden Weltkriege spielt, sondern auch weil in dieser tatsächlich eine Bella „Ciao“ sagt, gäbe es keinen passenderen Titel für dieses fulminante Werk.
Ein kurzer Blick ins Buch
Tatsächlich sagt die Protagonistin in jungen Jahren klammheimlich „Ciao“ nicht nur zu ihrem Heimatort, sondern gleich zu ihrem ganzen Heimatland.
Nachdem ihr Verlobter sie mit ihrer besten Freundin betrogen hat, verlässt Giulia Masca im Jahr 1901 ohne konkreten Plan, aber voller Hoffnung Italien mit dem Schiff nach New York. Zuvor waren die beiden Freundinnen gemeinsam politisch aktiv, in der Region wurde gerade gestreikt – faire Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen waren auch damals schon Themen, die von den Sozialist•innen unterstützt wurden.
45 Jahren später kehrt Giulia Masca zurück und erzählt uns während ihres Aufenthaltes in ihrem kleinen, fiktiven italienischen Heimatort „Borgo di Dentro“ retrospektiv ihre Lebensgeschichte. Doch es ist nicht nur ihre Geschichte. Es ist die Geschichte der Leute ihresgleichen. Aber auch die der anderen, der Menschen unterschiedlichster gesellschaftlicher Schichten und politischer Gesinnung. Eine fiktive und dennoch realistische Geschichte, wie sie hundertfach passiert sein könnte.
Wir begleiten also die junge Protagonistin nach New York, wo es ihr an der Seite eines Krämers sehr schnell gelingt, ein neues Leben zu beginnen. Auch wenn das deutlich komfortablere Leben in den USA nicht immer problemlos läuft, trifft es die Bewohner ihres Heimatortes im Piemont auf ganz andere, grausame Weise. Kaum vom ersten Weltkrieg erholt, erlebt das Dorf nach der Spaltung der linken Kräfte nicht nur den Aufstieg des Faschismus und den 2. Weltkrieg, sondern wird zudem auch noch von Naturgewalten heimgesucht. Doch so einfach lassen sich die Menschen dort trotz herber Verluste nicht unterkriegen. Das Örtchen bleibt bis zum Schluss eine standhafte Hochburg des Widerstands gegen das Regime unter Benito Mussolini.
Während Giulia Masca in New York erlebt, wie ihr Mann am Umbruch in der Marktwirtschaft verzweifelt und ihr Sohn und dessen Generation das Prinzip des „capital gain“ rasch begreifen, sieht ihre einstige beste Freundin in Borgo di Dentro vor allem Zerstörung, Tod und Leid – verursacht durch einen Krieg, der für andere nicht mehr als eine Gelddruckmaschine ist. In Mitten all dieses Chaos ereignen sich die vielen persönlichen Schicksale, von denen das Buch den Leser•innen mitreißend berichtet.
Mit dem Aufmarsch der italienischen Faschisten, dem Einrücken der deutschen Nationalsozialisten und der Formierung der Partisanen beginnt das Finale eines bewegenden Romans, der auch bis zum Schluss die individuellen Schicksale mit viel Einfühlungsvermögen in den Vordergrund stellt.
Eine Geschichte, in der eine Menge Geschichte steckt
Raffaella Romagnolo ist eine begnadete Schreiberin und dieses Werk ist etwas ganz besonderes. Die ganze Geschichte geht über Jahrzehnte, umfasst also sowohl beinahe ein ganzes Leben als auch mehrere Generationen und das in von einschneidenden Veränderungen geprägten Zeiten.
Der Autorin ist es gelungen den jeweils vorherrschenden Zeitgeist der und selbst die Übergänge dazwischen, authentisch einzufangen. Sie erzählt so lebendig, dass man als Leser•in mittendrin ist im Geschehen. Man kann die Szenerien hören, sehen, sogar riechen. Letzteres nicht nur, aber auch dank der wundervollen Schilderungen aus der Perspektive einer niedlichen, treuen Hündin.
Zwischen den grausamen Kriegsszenarien, der knisternden Erotik, dem rauen Alltag der Arbeiterklasse und beinahe kitschiger Romantik werden die politischen Aspekte zwar an vielen Stellen nur im Nebenbei erwähnt, wer jedoch im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, dem genügen diese kurzen Abschnitte um zu wissen, an welcher Stelle des Zeitstrahls man sich befindet. Außerdem kann man allein an der Handlung wohl selten wie in diesem Buch so gut erkennen, dass eben doch der ganze Alltag politisch ist.
Ähnlich rar sind die Gelegenheiten, in denen man Geschichte aus so persönlicher Sicht, nämlich aus Sicht der zivilen Bevölkerung, erfährt. Denn auch wenn die Figuren und Erzählungen fiktiv sind, sind sie auf ihre Weise repräsentativ. Die Leser•innen haben die Möglichkeit einzutauchen in ein Stück europäische Historie, das man als Nicht-Italiener·in vermutlich noch nie so bewusst und so detailliert wahrgenommen hat.
Einen besonderen Einblick bekommt man in die Rolle und das Leben der Frauen zu diesen Zeiten. Auch wenn das Wahlrecht für Frauen im Verlauf dieser Dekaden zunächst in den USA und eine ganze Weile später auch in Italien, eingeführt wurde, waren Selbstbestimmung und Unabhängigkeit für die meisten damals noch weit entfernt. Selbst über die Wahl des Ehepartners entschieden häufig noch die Eltern – selbstverständlich immer im Sinne des Familienunternehmens, also im Sinne des Kapitalwachstums. Im Buch trifft man auf viele starke Frauen, die längst nicht mehr bereit sind, sich den Konventionen zu unterwerfen und die die Leserschaft daran erinnern, dass dieser steinige Weg auch heute noch nicht zu Ende gegangen ist.
Den akribische Rechercheaufwand, den die Autorin für diesen Roman geleistet hat, muss man einfach explizit hervorheben. In Kombination mit Ihrem schreiberischen Feingefühl, ihrer Empathie für die Menschen, hat Raffaella Romagnolo ein ebenso literarisch wie auch historisch wertvolles Werk geschaffen.
Bella Ciao
Raffaella Romagnolo
Diogenes, 516 Seiten
24,00 Euro (gebunden) / 13,00 Euro (Taschenbuch)