"Täter·in und Opfer, Gut und Böse – mit Dr. Mark Benecke auf Spurensuche in unserer Geschichte"
Der Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke erklärt, warum es „das Böse“ eigentlich gar nicht gibt und weshalb gesellschaftliche Vielfalt unsere einzige Rettung ist.
Vor 77 Jahren ging der Krieg in Deutschland zu Ende, Hitler ist tot, das Land wurde entnazifiziert und die nachfolgenden Generationen haben von all dem Grauen des Krieges nichts mitbekommen.
Weshalb es auch heute noch wichtig ist, sich mit den Gräueltaten von damals zu befassen und warum wir gesellschaftliche Vielfalt nicht nur akzeptieren müssen, sondern sie sogar dringend brauchen, darüber durfte ich mit dem Kriminalbiologen Dr. Mark Benecke, der sogar schon einmal Hitlers Zähne in den Händen halten konnte, sprechen.
Mark, du hast dich schon viel mit Täter•innen beschäftigt – zum Beispiel hast du mit dem kolumbianischen Serienmörder Luis Alfredo Garavito Cubillos im Gefängnis gesprochen. Was reizt dich daran?
Für mich war es interessant, die Informationen einzusammeln, die meine Kolleginnen und Kollegen vor Ort deswegen nicht erfragen und aufschreiben wollten, weil sie der Auffassung waren, dass Garavitos Verbrechen zu fürchterlich waren und derart gegen jede Art von Gemeinschaftsverständnis und Kultur verstoßen haben, dass er kein Mensch sei und sich daher die Bearbeitung des Falles aus, nennen wir es einmal, spurenkundlich-kriminologisch-psychologisch-psychiatrisch-präventiver Sicht nicht lohne, weil ja über menschliche Verbrecher nichts daraus zu lernen sei. Das war natürlich nur eine Abwehrbewegung aus gesellschaftlichen Gründen, weil die Verbrechen zu unaussprechlich schienen.
Später hat mich dann die örtliche Polizei, die federführend bei der Bearbeitung des Falles war und aus einer ländlichen Region in Kolumbien stammte, todernst gefragt, ob Garavito seine Verbrechen begangen habe, weil er eine bestimmte Art ländlicher Musik gehört habe. Das hielten die örtlichen Polizisten für möglich und erwägenswert.
Ich habe daher später in Kolumbien auch in ländlichen Gebieten entsprechend über meine Befunde gesprochen und das Ganze auch international veröffentlicht. Eigentlich war die Sache damit für mich erledigt, bis im Jahr 2022, also jetzt während ich dieses Interview bearbeite, leider die schon lange befürchtete rechtliche Drehung zum Tragen kommt, dass Garavito freigelassen werden könnte.
Gerade laufen also Gespräche mit der örtlichen Polizei und den beteiligten Stellen, da die Kolleg•innen die vergangenen Jahre leider nicht genutzt haben, um sich mit der Persönlichkeit des Täters fachlich zu beschäftigen; das fällt ihnen mangels örtlicher Möglichkeiten aber auch sehr schwer. Gleichzeitig gibt es starke Sprachbarrieren, die nicht nur darauf beruhen, dass die Kollegen und Kolleginnen Spanisch sprechen, sondern teilweise auch sehr starken Dialekt, was es für Übersetzerinnen und Übersetzer auch schwierig macht.
Macht es wirklich Sinn, sich mit dem Wesensoncjer Täter zu befassen – sind solche Menschen nicht einfach nur böse?
Was als gut oder böse angesehen wird, ist ja völlig beliebig, beispielsweise werden in Kriegen hochgradig unsoziale Handlungen als gut oder zumindest als vollkommen korrekt angesehen, die unter anderen Umständen als unaussprechlich, entsetzlich und gegen alle Gemeinschaftsregeln verstoßend angesehen werden würden. So kommt es auch, dass in Kriegen regelmäßig Vergewaltigungen und dergleichen stattfinden, von denen später niemals mehr jemand etwas hört, um einmal ein vergleichsweise, zumindest in Kriegszusammenhängen, „harmlos“ erscheinendes Beispiel zu nennen, das im Alltag bereits als schwerste Straftat eingeordnet werden würde. Von den im Krieg stattfindenden Tötungen und Folterungen will ich hier erst gar nicht sprechen. Wir haben es allerdings im Forensik-Studierendenkurs im diesjährigen Sommer erstmalig als Hauptthema.
Aber auch im Alltag wird sehr häufig angenommen, dass beispielsweise eine unsoziale Handlung, die ich, wenn ich den Begriff benutzen würde, als „böse“ ansehen würde, sofern sie einen Nutzen für eine bestimmte Gruppe hat, weniger oder auch gar nicht schlimm sei.
Daher ergibt es meiner kriminalistischen Auffassung nach immer Sinn, sich mit dem Wesen von Täter•innen und mit den tatsächlichen, messbaren, d. h. im Mikroskop oder unter einer Kamera und dergleichen sichtbaren Spuren, zu befassen. Denn wenn bestimmte Wesenszüge mit bestimmten Handlungen zusammen fallen und dies regelmäßig passiert, lässt sich das gut für Vorbeugungsmaßnahmen einsetzen. Ein Beispiel sind die zahlreichen und sogar überzahlreich im Knast anzutreffenden antisozial Persönlichkeitsgestörten.
Da es bisher keine grundlegende Behandlung für diese Persönlichkeitsstörungen gibt, ist es zum Beispiel sinnvoll, früh die Berichte der Täter und Täterinnen damit abzugleichen, welchen Verhaltensspielraum sie künftig haben werden und auch zu fragen, ob sie überhaupt in der Lage sind, sich anderen Menschen zugewendet in dem Maße sozial und angemessen zu verhalten, wie wir es erhoffen. Diesen eingeschränkten Handlungsspielraum zu erkennen, der bei Persönlichkeitsstörungen und psychischen Krankheiten vorliegt, hilft dann Menschen in Schulen bis hin zu psychiatrischen Einrichtungen, auch forensisch-psychiatrischen Einrichtungen, menschenwürdige Möglichkeiten zu finden, mit den Tätern und Täterinnen umzugehen.
Aber – das mache ich gerne – auch mit den Opfern bzw. mit deren Angehörigen zu sprechen und dies wiederum in den Gedanken der Täter und Täterinnen zu verankern. Hierzu habe ich lange Gespräche geführt, die auf www.knastgespraeche.de zu finden sind und derzeit weiter laufen.
Man hört ja oft von Täter•innen, die selbst eine „schwierige Kindheit“ hatten. Auf wie viele trifft das tatsächlich zu?
Das ist mit Sicherheit in einem Großteil der Fälle richtig, denn erstens verstärken sich unsoziale Wesenszüge in einer stressigen, unsozialen, unregelmäßigen und unzuverlässigen Umgebung – kurz gesagt in schwierigen Verhältnissen von Eltern, Großeltern und so weiter. Zweitens ist es aber auch so, dass unsoziale Wesenszüge der Kinder dazu führen, dass ihre Kindheit automatisch schwierig wird, da andere Kinder und Jugendliche und auch Erwachsene sich aus Sicht dieser Kinder und Jugendlichen merkwürdig und unfair, zumindest aber unverständlich ihnen gegenüber verhalten. Dadurch entsteht wieder mehr Stress und so schaukelt sich das Geschilderte weiter hoch.
Die Frage ist eher, warum es viele Menschen mit einer nachweislich schwierigen Kindheit schaffen, nicht straffällig zu werden. Wer sich für dieses Thema interessiert, sollte hierzu einmal eigene Beobachtungen durch Gespräche mit Menschen aus allen genannten Personengruppen machen. Das ist gar nicht so schwierig, denn selbst im Bekanntenkreis werden sich Menschen finden, die als Kinder zum Beispiel vernachlässigt, verprügelt oder vergewaltigt wurden. Gleichzeitig freuen sich auch Straftäter und Straftäterinnen, wenn sie im Knast angesprochen werden.
Man kann also sagen, dass Menschen, die Opfer waren, ein größeres Risiko haben, später einmal selbst zum Täter zu werden?
Genauso richtig ist es, dass Menschen, die einmal Opfer waren, ein höheres Risiko haben Opfer zu werden, nämlich von Straftaten. Es gibt auch Mischfälle, wie beispielsweise beim psychopatischen Täter Jürgen Bartsch, über den es sogar ein Buch mit dem Titel „Täter und Opfer“ gibt. Es ist schwierig, einzusehen, dass Täter auch Opfer sein können, sogar sie selbst verstehen das häufig nicht. So gesehen würde ich die Begriffe Täter und Opfer, gut und böse, in Gesprächen ausklammern und hauptsächlich den Begriff „soziales oder unsoziales Verhalten“ verwenden und dies abgleichen mit dem Grad der Traumatisierung, die – egal warum – eingetreten ist.
Nun gab es ja in Deutschland eine Zeit, in der es hier in Deutschland zahlreiche Täter•innen gab – die Rede ist natürlich vom 2. Weltkrieg und den Nationalsozialist•innen. Einer der auch heute wohl noch bekanntesten Nationalsozialisten war der KZ-Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, dessen Kindheit geprägt war von körperlichem und emotionalem Missbrauch durch seinen fanatischen Vater. Auch er war also einst Opfer. Hatten also alle Nazis eine „schwierige“ Kindheit und wurden deshalb zu Täter•innen?
Das ist ganz sicher nicht so, Nazis gab es in ganz Deutschland millionenfach. Aus heutiger Sicht wirken natürlich deren Lebensläufe manchmal seltsam, beispielsweise bei Wärter•innen in Konzentrationslagern oder anderen bekannten Figuren wie Rudolf Höß, der sich ja sein gesamtes Leben zurecht gelogen hat. Erst bei der kürzlich erfolgten genauen Überprüfung seiner eigentlich nicht uninteressanten Biographie stellte sich heraus, dass selbst hier viele unnötige Lügen zu finden sind. Der regenschirmartige, allgemeine Begriff der schwierigen Kindheit führt also hier zu nichts, da Nazis, oder anders gesagt Menschen mit Schwächere sehr stark ausgrenzenden Gedanken und Handlungen, beispielsweise in wirtschaftlichen Zeiten leicht an die Macht geraten können und dabei nur das vorhandene Gedankengut der breiten Bevölkerung unterstützen und ausnutzen.
Das Märchen, dass die Nazi-Führer das gesamte Volk verführt hätten, ist wissenschaftlich vollständig widerlegt. Es handelt sich hier um ein Totalversagen der menschlichen Gesellschaft, nicht um die schlangenartige Verführung der Massen durch Einzelne angeblich charismatische Menschen die, wie ich hinzufügen möchte, auch nur begrenzt charismatisch waren. Ich empfehle hierzu die Berichte der Sekretärinnen von Goebbels und Hitler.
In Zusammenhang mit den Nationalsozialisten ist oft die Rede von einem neuen Tätertyp, den man bis dato nicht kannte (vgl. z. B. auch Hannah Arendt). In wie fern ist das tatsächlich so, ist nicht Täter•in einfach Täter•in?
Das spielt keine Rolle, da jede Zeit anders ist, insbesondere auch wirtschaftlich und in Bezug auf den naturwissenschaftlichen, medizinischen, sozialen, finanziellen und sonstigen Fortschritt. Die Wesenszüge der Menschen ändern sich nicht nennenswert, es geht immer nur darum, welche Persönlichkeitsformen von der Gesellschaft jeweils anerkannt und unterstützt werden. Anders gesagt würde ich aus meiner Erfahrung sagen, dass alle Täter und Täterinnen immer auch neueTäter und Täterinnen sind, weil sie sich in das zeitliche und räumliche und sonstige Gewebe der jeweiligen Umstände zwingend einfügen müssen, alleine schon weil sie in der betreffenden Zeit leben und wirken, essen und trinken, sprechen und eben eingewebt sind.
Nach dem Krieg wurde 24 Nazigrößen der Prozess gemacht, die Hälfte von ihnen wurde zum Tode verurteilt. Nazi-Symbole und Parolen wurden verboten, noch heute werden (Mit-)Täter vor Gericht gestellt, an die schrecklichen Taten wird noch heute regelmäßig mahnend erinnert und die Ereignisse wurden nicht nur in Geschichtsbüchern aufgezeichnet, sondern man findet sie auch in unzähligen literarischen Werken, Filmen und Dokumentationen. Kann man, auch in Hinsicht auf die Täter•innen, Parallelen zu anderen Genoziden, die es ja durchaus gab, erkennen?
Es mag sein, dass Menschen die sich für das Thema interessieren, eine genügende Aufarbeitung erkennen, allerdings staune ich immer wieder, dass wesentliche Unterlagen – beispielsweise beschäftige ich mich gerade mit den Originalaussagen der Menschen, die bezeugt haben, dass Ilse Koch in Buchenwald tätowierte Häftlinge häufiger töten ließ um die Tätowierungen aufzubewahren, selbst in der Fachliteratur gar nicht bekannt sind oder nicht zitiert werden, obwohl die Gerichtsakten durchaus in den Archiven liegen.
Die Prozesse, beispielsweise, die sehr gut auch in knister- und klickfreien Aufnahmen vorliegenden Verhandlungen, beziehungsweise die Gesamtverhandlungen in Frankfurt am Main gegen Täter und Täterinnen aus Auschwitz, sind ebenfalls heutzutage fast unbekannt, obwohl sie sehr viele interessante Einzelheiten enthalten, die ich teilweise selber in die Wikipedia einpflegen musste, weil sie nicht einmal dort – also in einer eher links-liberalen Umgebung – zu finden waren.
Offenbar hatte sich also nahezu niemand die Mühe gemacht, diese geradezu liebevoll, ordentlich aufbereiteten Tondokumente, die sich sehr gut anhören lassen und die auf einer sehr guten Website verfügbar sind, einfach gestaltet und gut verständlich, einmal in Ruhe anzuhören.
Ich verstehe das auch: Die Aktendurchsichten und das Anhören der Originalaussagen der Zeuginnen und Zeugen sowie der Täterinnen und Täter dauern natürlich hunderte von Stunden. Andererseits erlebe ich heutzutage, dass auch in gegen Nazis, gegen faschistische Strömungen und der gleichen gerichteten Umgebungen häufig die Originalunterlagen gar nicht bekannt sind.
Das stört mich weniger, wenn Menschen sich gegen faschistische Bewegungen im allgemeinen oder im speziellen richten, wenn man jedoch über klassische Nazis spricht wäre es vielleicht empfehlenswert, doch einmal deutlich tiefer in die Literatur einzutauchen, und insbesondere auch in die Werdegänge der zum Teil auch jetzt noch verurteilten Menschen – heutzutage sehr alte Personen, die bei der SS, in Konzentrationslagern arbeiteten – anzuschauen.
Nicht selten handelt es sich einfach um der damaligen Zeitströmung durchaus entsprechenden Menschen, die feige und die Gelegenheit ausnutzend waren und dann einfach das getan haben, was vor Ort geeignet und für sie angemessen erschien. Solche Menschen gibt es heute noch reichlich, ich möchte sogar annehmen, dass sie die Mehrheit der Menschen ausmachen und sich nur deswegen sozial verhalten, weil eben dies gerade derzeit für sie praktischer und angenehmer ist.
Was ich damit sagen will ist, dass betreffs deiner Frage nach den Genoziden aus meinen Erfahrungen und den mir bekannten Berichten über die Genozide in Ruanda, Osteuropa, der Shoah und einigen weiteren, solche Genozide jederzeit wieder möglich sind und mit Sicherheit wieder stattfinden werden.
Historisch und juristisch wurde und wird der 2. Weltkrieg also halbwegs aufgearbeitet, oder es wird zumindest versucht. Was aber ist mit der psychologischen Aufarbeitung? Fangen wir mal ganz rudimentär an: Gab es die in den Jahren nach dem Krieg überhaupt?
Ja, es gab Versuche der US-amerikanischen Kolleginnen und Kollegen, die Fragen psychologisch aufzuarbeiten, hierzu fehlte allerdings das Tatsachen-Wissen, da die Akten erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte aufgearbeitet wurden. Es gibt daher zeitgemäße Psychogramme, mensch sollte dabei aber nicht vergessen, dass auch schon lange vor dem 2. Weltkrieg bekannt war, welche Wesenszüge Menschen im Kern haben und wie unsoziales Verhalten entsteht.
Ich empfehle hierzu unbedingt die Dokumentationen, filmisch und schriftlich, über den jüdischen Vorsteher aus Theresienstadt, Benjamin Murmelstein, insbesondere den Film „Der Letzte der Ungerechten“, im Original „Le dernier des injustes“ von Claude Landsmann aus dem Jahr 2013.
Hier wird deutlich, wie unglaublich schwierig die Bewertung der Handlungen aller Menschen unter den Bedingungen kriegsbedingter oder in Kriege eingebetteter Genozide ablaufen kann oder auch nicht ablaufen kann, denn natürlich gibt es unzählige kleine Zusammenarbeiten, geheime Absprachen und Ähnliches.
Ein weiteres sehr gutes Beispiel dafür sind die angeblich heldenhaften kommunistische Häftlinge im KZ Buchenwald, die in der DDR als strahlende Helden (und seltener Heldinnen) dargestellt wurden. Tatsächlich ist aus meiner Sicht hier aber zu empfehlen, überhaupt keine Bewertung vorzunehmen, sondern nur die Tatsachen festzustellen und für Vorbeugungsmaßnahmen zu verwenden. Denn wie ist es beispielsweise einzuordnen, wenn Häftlinge andere Häftlinge töten, die langfristige Ziele, die dem gesamten Lager nützen könnten, durchkreuzen könnten?
Wie ist es zu bewerten, dass die Flucht Einzelner von den Häftlingen unterbunden wurde, damit nicht das ganze Lager darunter zu leiden hatte? Wie ist es zu bewerten, dass der Assistent von Mengele selbst ein jüdischer Arzt war, der sich dadurch sein eigenes Leben und das seiner Familie zu retten erhoffte? Es ist aus meiner heutigen Sicht sinnvoll, die Akten noch einmal gründlich zu lesen, sich gegen jede Art unsoziales Verhalten zu wenden und Bewertungen insofern weit hinten anzustellen, als dass ich hinreichend oft angeblich gute Menschen schlechte Taten und angeblich schlechte Menschen gute Taten habe begehen sehen.
Die psychologische Aufarbeitung sollte vielleicht eher dahin gehen, dass Menschen verstehen, dass Vielfalt eine gesellschaftliche Stärke ist, während die Einengung auf angeblich harte und starke Ziele im Sinne von Ausmerzung auf der einen und Machtdemonstration auf der anderen Seite, kurz gesagt faschistischer Vorstellungsweisen, wissenschaftlich nachgewiesen eine gesellschaftliche Schwäche darstellt, die, wenn man so möchte, auch biologisch nur Nachteile nach sich zieht. Vielfalt ist die einzige Möglichkeit, um biologisch-psychologisch und wirtschaftlich die sich dauernd ändernden Bedingungen der Umwelt zu überstehen.
Es wurde also die gesamte Gesellschaft nicht nur mit dem Trauma des grausamen Krieges alleine gelassen, sondern auch mit der „Gehirnwäsche“, die ihnen Hitler und seine engen Gefolgsleute verpasst hatten?
Das sehe ich anders. Direkt nach dem Krieg ist die sogenannte „verbrannte Generation“ entstanden, das waren die aus heutiger Sicht uns bekannten Eltern und Großeltern, die über den Krieg überhaupt nicht sprechen wollten oder in kriegsbedingter Nachkriegsarmut mit folgendem Wirtschaftswunder in Deutschland aber gleichzeitig der sicheren Gewissheit, dass irgendwas nicht stimmt, aufgewachsen sind. Von einer Gehirnwäsche würde ich hier nicht sprechen.
Ich kann nicht oft genug betonen, wie sehr gerade die Nationalsozialisten ihre Gedanken nicht etwa auf ahnungslose Menschen streuselten, sondern sie umgekehrt ihre Energie und ihre Macht daraus zogen, dass die Menschen einerseits aus wirtschaftlichen Gründen zu vielem bereit waren und andererseits den schon Jahrhunderte bestehenden Märchen über Juden und Homosexuellen anhingen und im Übrigen nicht genug Grundkenntnisse besaßen um zu verstehen, dass Zusammenarbeit und Vielfalt menschliches Zusammenleben, aber auch Überleben überhaupt, erst ermöglichen. Hitler selber, aber auch insbesondere Goebbels – von Göring möchte ich nicht sprechen, da er komplett seiner Drogensucht verfallen war und deswegen wenig Inhaltliches beitrug – haben meiner Auffassung nach teils schwankende gesellschaftliche Einschätzungen ergeben.
In „Mein Kampf“ ist deutlich erkennbar, dass Hitler durchaus menschenfreundliche, sozialpolitische Ansätze in sich trug und in seiner heute aber allgemein bekannten, nahezu karikatur- bis wahnhaften, schäumenden Charakter-Art in Zusammenspiel mit seiner Substanzabhängigkeit, seiner offenbar schlechten Kindheit, seinem sehr schlechten Gesundheitszustand, seinem schwachen Nervenkostüm – er hatte beispielsweise schwere Magen-Darm-Beschwerden und extrem ungepflegte Zähne, woher auch das Märchen kommt, dass er Vegetarier gewesen sei, obwohl er in Wirklichkeit auf Schonkost angewiesen war – dieses alles zusammen mit dem typischen Cäsarenwahn ergab dann eine anfangs noch der Situation angepasste, später aber vollkommen selbstzerstörerische Melange.
Eine Gehirnwäsche der Bevölkerung hat mit Sicherheit nicht stattgefunden, denn die Alliierten versuchten ja spätestens durch die Pendelbombungen, denen zuletzt Dresden zum Opfer fiel, den Deutschen zu zeigen, dass ihre Gefolgschaft zu den Nazis keine für sie sinnvollen oder erfreulichen Folgen haben kann. Gegen diese Einsicht haben sich die meisten Deutschen allerdings bis zuletzt gewehrt. Meine Oma beispielsweise (mein Opa war bei der Operation „Barbarossa“ im Einsatz) gehörte zu denen, die dann mit ihrem Sohn in letzter Minute aus Ostpreußen fliehen mussten, da dort ein Haltebefehl herrschte, sodass die Zivilbevölkerung auch im Angesicht der sowjetischen Truppen die bedrohten Gebiete nicht verlassen durfte und erst in letzter Sekunde unter lebensgefährlichen und traumatischen Bedingungen in das heutige deutsche Gebiet gelangten.
Egal, wo ich den Akten nachschaue, ich erkenne überall den Durchhaltewillen der Menschen, der sicher nicht durch Gehirnwäsche, sondern durch größenwahnsinnige Vorstellungen, insbesondere der Vorstellung, dass angeblich schwächere Menschen in irgendeiner Weise unnütz oder überflüssig seien, getragen wurde.
Was macht das mit Menschen, nie über all diese einschneidenden Erfahrungen sprechen zu können?
Die Generation der Menschen, die im Krieg war, insbesondere die Männer, die selbst gekämpft haben, hatte noch die Möglichkeit, in den so genannten „Landser-Umgebungen“ – dazu gab es auch Heftchen, die Jahrzehnte lang an jedem Kiosk erhältlich waren – oder in Unterstützungs- und Gemeinschaftsgruppen sich noch unter der Fahne der angeblichen Kameradschaft in eine Art verständnisvolles Wohlgefühl begeben zu können.
Selbstverständlich gab es auch hier starke Traumatisierungen, so dass der Großteil der Männer, die im Krieg gekämpft haben, überhaupt nichts gesagt haben. Ein schönes Beispiel dafür findet sich im Interview der Eltern des RAF-Terroristen Holger Meins, die auf die Frage, was sie im Krieg erlebt haben, vor laufender Kamera regelrecht sprachlos werden und erkennbar nicht mehr sprechen können, also körperlich.
Daraus ist dann die „verbrannte Generation“ entstanden, die dadurch, dass sie über ihre Erlebnisse nicht sprach, die bildlich gesprochen „verbrannten Kinder“ erzeugte, die sich auf ihre Art unpolitisch angepasst verhielten, bis dann in den 1960er Jahren in Westdeutschland die sogenannte Studentenrevolte Einzug hielt und deutlich machte, dass den Berichten älterer Menschen grundsätzlich nicht zu trauen sei. Damals dachten die Studierenden hauptsächlich, dass ihre Eltern beziehungsweise Großeltern lügen.
Wir wissen aber aus der heutigen Forschung über posttraumatische Belastungsstörungen, dass es sich tatsächlich um das Abkapseln von unaussprechlichen Dingen handelte. In Deutschland kam noch hinzu, dass die Menschen sich als Opfer fühlten und dies dann durch Märchen wie beispielsweise des angeblich guten Nazis Albert Speer, der sich „eigentlich“ nur für Kunst und Architektur und ein großes Projekt, nämlich die Neugestaltung der Städte und dergleichen, interessierte und dann nach zwanzig Jahren Haft, die er in Spandau im Gefängnis verbrachte, mit könig•innen-artigem Gruß die Haftanstalt verlassend in hunderten von Interviews berichten durfte, dass er wohl allgemein irgendeine Verantwortung trage, persönlich allerdings einfach blind gewesen sei.
Dieses Märchen nahm dann die Bevölkerung an und sah sich als Opfer, die irgendeine allgemeine Schuld gehabt, aber persönlich im Einzelnen nichts getan hätten. Hierzu gibt es bewegende Beispiele, wenn dann Mitglieder der verbrannten Generation (also die Kinder-Generation derer, die im Krieg waren) die Familiengeschichte beleuchteten, was in der Regel dazu führte, dass sie aus dem Familienverbund ausgeschlossen wurden und keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie hatten, insbesondere wenn die Eltern beispielsweise von Juden übernommene Grundstücke, Häuser, Geld oder sonstige Güter erhalten hatten.
Die Eltern waren nicht in der Lage, das gegenüber ihren Kindern einzugestehen und nahmen lieber in Kauf, die gesamte Familienstruktur zu zerstören. Ein Beispiel dafür ist im Buch „Mein guter Vater“ von Beate Niemann geschildert.
Es gäbe noch viel zu der Frage zu sagen, was einschneidende Erfahrungen mit Menschen machen, ich will es aber einmal dabei belassen.
Tatsächlich passiert es ja immer wieder, dass Menschen, die den 2. Weltkrieg miterleben mussten, im hohen Alter, oftmals regelrechte „Flashbacks“ erleben – häufig wenn sie beispielsweise an Demenz erkranken oder sogar auf dem Sterbebett. Wie ist das zu erklären?
Hier kommen zwei Dinge zusammen. Das Erste ist, dass die Menschen die ganze Zeit ganz genau wussten, was sie getan haben, es also keineswegs Flashbacks waren, sondern durch die Demenz die vorderen und seitlichen Hirnbereiche, die für Hemmungen zuständig sind, abgebaut wurden und dadurch nun im Alter bei Demenzerkrankung die Hemmung, das Erlebte auszusprechen, weg fiel.
Das erlebt man auch sehr deutlich bei Demenzkranken, die plötzlich wieder sexuelle Handlungen durchführen möchten – dies wollten sie eigentlich die ganze Zeit, da sie es aber als alte Menschen sozial unterdrückt hatten, bedurfte es des Abbaus der Hemmungsbereiche des Gehirns, bis diese sexuellen Wünsche nun wieder deutlich ausgesprochen werden und wurden. Das Zweite ist, dass es in selteneren Fällen zur langjährigen Abkapselung des Erlebten kam und dann aus persönlichen Gründen zum Ende des Lebens der Wunsch entstand, dies noch einmal mitzuteilen.
Inzwischen leben die meisten derer, die das NS-Regime noch wirklich miterlebt haben, also die Generation, die auch (manche aktiv, andere passiv) Täter•innen waren, nicht mehr. Die Großeltern der 2. Nachkriegsgeneration, die Eltern unserer Eltern. Damit dürften die letzten Spuren, die der Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft hinterlassen hatte, verschwunden sein – oder etwa nicht?
Das hängt sehr von der Bereitschaft der einzelnen Menschen ab, sich in die umfangreich vorhandenen Akten einzuarbeiten. Eine gute Möglichkeit, sich in die Tatsachen und Messungen einzuarbeiten, besteht meiner Meinung nach darin, sich sogar wahllos Berichte aus den schon erwähnten Gerichtsverfahren in Frankfurt am Main, die auf Betreiben von Staatsanwalt Fritz Bauer stattgefundenen haben, anzuhören.
Das lässt sich sehr gut häppchenweise durchführen, was vielleicht auch den heutigen Hörgewohnheiten entsprechen dürfte. Zum Anderen gibt es sehr viele Zeuginnen und Zeugen Berichte, sogenannte Zeitzeugen. Hier finden sich zwar zahlreiche Fehler in den Erinnerungen, liest man aber genügend solcher Berichte, entsteht ein deutliches Bild dessen, was insbesondere in den Konzentrationslagern als Kristallisationspunkt dessen, was wir heute als Nazi-Gewalt ansehen, stattgefunden hat.
Spuren sind also reichlich vorhanden und so lange es Menschen gibt, die sich für unsoziales und damit gleichzeitig auch für die Frage, was soziales Verhalten ist, interessieren, gibt es wohl keine geringere Schwierigkeit als sich hier gründlich und den persönlichen Interessen folgend – manche Menschen interessieren sich vielleicht eher für Erfahrungen in Schlachten, andere für die Berichte die über die Polizeieinheiten vorliegen, andere vielleicht eher für kriminalpolizeiliche Gedanken, andere eher für die eben schon genannten KZ Erfahrungen und so weiter – einzuarbeiten.
Könnte man also sagen, wenn die Rede davon ist, dass Geschichte sich wiederholt, es auch (oder vielleicht sogar vor allem), psychologische Muster sind, die sich wiederholen?
Das ist mit Sicherheit richtig. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umgebungen bestimmen, welche Persönlichkeitseigenschaften empor spülen und von der Gesellschaft dann mitgetragen werden.
Das Generationentrauma des 2. Weltkrieges wirkt sich also noch immer auf die Gesellschaft, auf die heutige Generation aus?
Wenn wir von Westdeutschland und Ostdeutschland sprechen, als den Bereich in dem jetzt das, was die Nazis betrifft, als besonders schuldhaft empfunden wird (dies ist ja in anderen Bereichen, in denen die Nazis zumindest ideologisch wenig Widerstand erfuhren, beispielsweise in Polen, wo es noch nach dem 2. Weltkrieg Judenvertreibungen gab), dann hat sich das Geschehen auf ganz verschiedene Weisen auf die heutige Gesellschaft ausgewirkt.
In der DDR wurde beispielsweise die antifaschistische Leitlinie derart laut brüllend vorgetragen, dass sich erstens zahlreiche Nazis in der DDR tarnend untergetaucht aufhalten konnten und sich zweitens auf der anderen Seite eine neue diktatorische Regierungsform entwickeln konnte.
In Westdeutschland fühlte sich die Generation, die in den späten 1960er Jahren die schon angesprochene Studentenrevolte durchführte oder miterlebte als bessere Menschen, die sich über die vorige Generation nicht nur ärgerten, sondern auch erhoben, was natürlich auch unrichtig war.
Wie schon erwähnt, bin ich überzeugt, dass es auch heute noch massenhaft über-anpassungsfähige Menschen gibt, die sich unter den entsprechenden Umgebungsbedingungen ebenfalls unsozial verhalten würden, sich dies aber aus der von ihnen angenommenen Rolle des besseren Menschen nicht eingestehen und daher selbst anfällig für kritiklose Selbstanerkennung ihres eigenen Verhaltens sind.
Man hört immer wieder, 32% der Deutschen würden glauben, ihre Vorfahren hätten von den Nazis Verfolgten geholfen. Tatsächlich geholfen hat aber nur 1% der damaligen Bevölkerung. Woher denkst du, kommt diese Fehleinschätzung?
Ich halte es für ausgeschlossen, dass bei ehrlicher Befragung ein Drittel der Deutschen glaubt, ihre Vorfahren hätten von den Nazis Verfolgten geholfen, also das halte ich für ein vollkommenes Märchen. Zum Glück habe ich so eine Umfrage noch nie gelesen oder noch nie gehört, es handelt sich hier im besten Fall um soziale Anpassung der Antworten, im schlechteren Fall um eine gefälschte Befragung.
Ich glaube nicht, dass diese Fehleinschätzung besteht, sondern ich halte diese Umfrage für wissenschaftlich untragbar und nicht im Einklang mit irgendwelchen Befunden, Messungen und Akten stehend, die mir bisher bekannt geworden sind. Die einzige Erklärung könnte wie gesagt soziale Anpassung oder Ähnliches sein; mir scheint die Studie aber eher schwer Methoden-mangelhaft zu sein; ich müsste mir dazu mal die originalen Daten anschauen.
Auf der einen Seite werden die Täter•innen sehr stark dämonisiert, während auf der anderen Seite ihre Taten gern verleugnet werden. Woher kommt diese Ambivalenz?
Hier kann ich hauptsächlich nur kriminalistisch und spurenkundlich darauf antworten. Also meiner Meinung nach arbeiten sich Menschen heute nachvollziehbarer Weise nicht mehr in die Taten ein. Es kostet tausende von Stunden Lesezeit, jenseits der hundertfach aufgewärmten Berichte und Bilder, die auf Nachrichtensendern zu sehen sind, um kriminalistisch die räumlich-zeitliche Spurenlage bewerten zu können.
Es ist also kein Wunder, dass die Taten in ihren Einzelheiten heute gar nicht bekannt sind. Die meisten Menschen haben wahrscheinlich Berge von Leichen vor Augen, die als Propaganda-Bilder zum Glück in den Konzentrationslagern hergestellt wurden – teilweise musste die örtliche Bevölkerung ja auch die Leichenberge in den Konzentrationslagern besichtigen.
Heute fehlt aber, so weit ich das beobachten kann, eine in die Tiefe gehende Beschäftigung mit den Taten. Ich habe mehrere Konzentrationslager auch dienstlich besucht und fühlte mich dort meist wie ein Alien, denn während auf mich tausende von Tonband- und Aktenstunden einstürzten und in meine Knochen krochen, schienen mir die meisten Gruppen, die ich dort antraf, entweder daran interessiert zu sein, eine Bestätigung des aus Nachrichtensendern bekannten Materials zu erfahren oder es waren Schülerinnen und Schüler, die das Ganze eher gefühlsmäßig mit einer für sie fremden Vergangenheit abzugleichen versuchten.
Eine detaillierte psychologische Aufklärung der Bevölkerung über die Mechanismen und Fallen solcher faschistischen Regime und die Täteridentitäten des NS abseits von vermeintlichen Schuldzuweisungen die unweigerlich eine Verweigerungshaltung auslösen – wie glaubst du, ließe sich das umsetzen?
Die Aufklärung muss gar nicht psychologisch sein, sondern es reicht meiner Meinung nach bereits über soziale Verhaltensweisen unter schwierigen Bedingungen zu sprechen. Vermutlich (zumindest ist das meine Erfahrung in der weltweiten Bearbeitung von Kriminalfällen) kann man von Menschen nicht allzu viel verlangen, besonders keinen persönlichen Einsatz oder die persönliche Gefährdung der eigenen Familie oder von sich selbst, das scheint die meisten Menschen zu überfordern.
Eine sehr ernste Ansprache darüber, was als sozial und unsozial anzusehen ist, scheitert meiner persönlichen Erfahrungen nach schon daran, dass beispielsweise die Mitteilung, dass Versicherungsbetrug hochgradig unsozial ist, weil er alle anderen Versicherten in Haftung zieht oder das Märchen vom Fremdgehen, das angeblich nichts mit der anderen Person zu tun habe, ebenfalls ein unsoziales Verhalten ist. All dies wird in der Regel mit einem Lächeln beantwortet. So gesehen sind wir wahrscheinlich wieder bei den Persönlichkeitstypen, das heißt es scheint Menschen zu geben, die grundsätzlich soziales Verhalten in den Vordergrund stellen.
Der Großteil der Menschen scheint dies von den jeweiligen Umgebungsbedingungen nahezu ausschließlich abhängig zu machen, so dass meine einzige Hoffnung darin besteht, dass die durch das Internet mittlerweile stark verbundenen Menschen genügend Menschen in anderen Regionen der Welt kennen und die seit dem aufkommen von TikTok echte Diversität erleben und erfahren, dass diese Menschen einfach nicht mehr bereit sein werden, sich faschistischer Einengung anzuschließen.
Nun gibt es ja Kritiker•innen die sagen, es dürfe dahingehend gar keine so genaue Aufklärung geben, denn das würde potenziellen Nachahmern eine Blaupause, quasi eine Anleitung zur Wiederholung all dieser schrecklichen Dinge, liefern. Siehst du diese Gefahr auch, oder ist eine lückenlos aufgeklärte Bevölkerung eher gegen solche Dinge gewappnet?
Es hängt sicher von der persönlichen Bereitschaft einzelner Menschen ab. Beispielsweise würde ich, wenn jemand sehr empfindlich gegenüber Gewaltdarstellungen ist, dieser Person nicht zwingend Gewaltdarstellungen vorhalten. Umgekehrt würde ich Menschen, die eine sehr wankelmütige Einstellungen zu sozialem Verhalten haben, auch keine Vorträge oder vorbildliche Handlungen besonders sozial handelnder Menschen vorhalten.
Hinzu kommt, dass die Menschen, die für sich annehmen, grundsätzlich gut zu handeln, durchaus anfällig dafür sind, Menschen wie Mutter Teresa, Gandhi oder ähnliche Personen grundsätzlich als vorbildlich anzusehen, ohne anzuerkennen, dass es in jeder Person Persönlichkeitsschattierungen geben muss.
Diese sogenannte hagiographische, also Heiligen-verklärende Sicht der Welt, führt keinen Millimeter weiter, da natürlich eine sozial handelnde Person, die vor 20, 30, 50 oder 500 Jahren gestorben ist, schwerlich ein Leitbild in veränderten sozialen, wirtschaftlichen, politischen Bedingungen sein kann. Das Geheimnis lautet meiner Meinung nach, dass die Menschen erfahren müssen, dass die Vielfältigkeit der Welt eine Stärke ist, dies hatte ich ja bereits erwähnt.
Wer das persönlich erlebt und nicht nur die persönliche Bereicherung daran, sondern eben auch die soziale Stärke in Notsituationen wie auch in angenehmen Situationen, der wird sich dafür einsetzen, dass die Taten, die hier als mögliche Blaupause geschildert werden könnten, einfach als derart abwegig wahrgenommen werden, dass die vernetzten und vielfältigen Menschen, egal ob sie in allen Einzelheiten davon Kenntnis haben oder nicht, grundsätzlich Abstand davon nehmen werden.
Es besteht also noch eine Chance, unsere Gesellschaft zu resozialisieren (obwohl vielen gar nicht bewusst ist, was für ein großer Anteil ihrer Denkweisen noch auf die „Gehirnwäsche“ von damals zurück zu führen ist) und irgendwann ein für alle mal das Erbe des NS abzustreifen?
Meiner Meinung nach gibt es kein „Erbe des NS“, sondern es gibt nur eine riesige Anzahl von Menschen, die bereit sind, sich an die herrschenden Bedingungen anzupassen, und auch bereit sind, sich hochgradig unsozial zu verhalten. Das wird niemals abzustreifen sein, weil es offenbar biologisch so ist, dass es eine gewisse – und zwar große – Menge von Menschen geben muss, die bereit ist, sich ohne weiteres Nachdenken sozusagen „ihrer Zeit“ anzupassen oder manchmal auch zu unterwerfen.
Es handelt sich hier nicht um das Erbe des NS, sondern es handelt sich hier um die Frage, wie wir die natürlich auch auf Eigennutz gerichteten Interessen von Menschen dahin führen, dass sie nicht mehr glauben, eine bestimmte Denkrichtung sei die einzig richtige und damit mit Gewalt durchzusetzen.
Zum Schluss noch eine grundlegende Frage: Die Nazis haben nicht nur die Medizin, sondern auch die Psychologie in furchtbaren Verruf gebracht und Menschen mit psychischen Erkrankungen stigmatisiert, die Bevölkerung zum Schweigen gezwungen. Kein Wunder also, dass die Bereitschaft zur Auseinandersetzung auf dieser Ebene eher gering ist. Wie könnte man die Menschen dazu bringen, wieder Vertrauen in diese Wissenschaften zu fassen, um eine solche Aufarbeitung überhaupt zu ermöglichen?
Die Bevölkerung wurde nicht zum Schweigen gezwungen. „Die Bevölkerung“ war mehr als bereit zu schweigen, dies sehen wir auch heute auch noch in zahlreichen Fällen, wo beispielsweise innerhalb der Nachbarschaft bei sexuellem Missbrauch geschwiegen wird, weil die dörfliche Gemeinschaft oder die Mietergemeinschaft nicht gestört werden soll. In Vernachlässigungsfällen ist dies ebenfalls Alltag, auch hier wird regelmäßig ein Auge zugedrückt.
Dasselbe gilt für die Opfer-Umkehr, also die typische Fragestellung ob Personen zum Beispiel nach erlebter sexueller Gewalt nicht irgendwie doch selbst daran schuld seien. Es kann also keine Rede davon sein, dass hier irgendjemand zum Schweigen gezwungen wurde, sondern es handelt sich um eine menschliche Eigenart.
Die Psychologie ist nicht in Verruf geraten, sondern es war die Psychiatrie, die hier im Zusammenspiel mit den von dir hier nicht deutlich angesprochenen Euthanasie-Programmen einfach massiv Scheiße gebaut hat. Daraus ist die sehr gute Bewegung beispielsweise der Gemeindepsychiatrie, also der sehr stark in der örtlichen Gesellschaft verankerten Einbettung von sogenannten „Abweichungen“, entstanden. Hierbei geht es auch darum, dass man dass man bestimmte Verhaltensweisen beispielsweise bei psychotischen Menschen einfach ertragen und aushalten muss und man diese Menschen nicht sofort wegsperren kann, darf und soll.
Ich finde also persönlich eher, dass im deutschsprachigen Raum die gerade karikaturhaft verzerrte und mörderische Bereitschaft im psychiatrischen Bereich, Menschen auszugrenzen, zu labeln, zu sterilisieren und zu ermorden, dazu geführt hat, dass eine sehr gute und menschliche Psychologie und Psychiatrie entstanden ist. Das ist zumindest das, was ich auf Kongressen, Tagungen und Gesprächen mit Menschen mit seltenen genetischen oder psychischen Erkrankungen und ähnlichem erlebe.
Dasselbe gilt für die Medizin. Für diejenigen Menschen, die sich einmal die Forschungsergebnisse beispielsweise der letzten zwei Jahre in Ruhe ansehen mit mindestens großem Interesse oder vielleicht sogar großer Freude, erkennen dass auch hier sehr menschenfreundliche und sinnvolle Gespräche und auch Streitgespräche stattfinden, die auf dem Boden der erzielten Forschungsergebnisse ermöglicht haben, dass wir beispielsweise als menschliche Gesellschaft Corona überhaupt durchgestanden haben und nicht das erlebt haben, was ohne Weiteres hätte passieren können, nämlich dass wie bei der Pest ständig hin und her schwappende Massenauslöschen von Menschen.
Natürlich gab es auch bei Corona reichlich Probleme und Schwierigkeiten, das ist aber die Natur der Wissenschaft, nämlich Fehler wahrzunehmen und sie beim nächsten Mal nicht mehr zu machen. Meiner Meinung nach sollten Menschen, die hier gegen Psychologie und Medizin sprechen, einfach mal auf die entsprechenden Kongresse fahren, sich die Zeit und die Ruhe nehmen, sich dies unbefangen anzuschauen. Ich möchte beispielsweise betonen, dass bei psychiatrischen Tagungen regelmäßig auch Selbsthilfeverbände der Betroffenen vor Ort sind, dort eigene Stände und Tische haben.
Dass beispielsweise im Internet zahlreiche Videos zu finden sind, in denen schwerst erkrankte Menschen (körperlich und/oder nervlich), die sich derart ausdrücken können, dass bereits nach wenigen Videos jedem klar sein dürfte, dass es sich hier um in Wahrheit Normalität handelt, nämlich einfach um die schon geschilderte Vielfalt und daher zumindest in den reichen Ländern mehr als deutlich wird, dass Medizin, Psychiatrie und Psychologie sich zumindest empor arbeiten und mit aller Kraft als Gesamtwissenschaften daran interessiert sind, jeden Tag einen Schritt zu immer sozialerer und menschenfreundlicherer Versorgung durchzuführen.
Es gibt immer sehr viel Geschnatter, Hass, Wut und Einzelerfahrungsberichte, die das zu widerlegen scheinen. Ich möchte aber noch einmal betonen, auch in Bezug auf die Täter- und Opfer-Akten der Nazis, dass sich sehr leicht politische, hitzige Gefechte führen lassen – dazu gehört nicht viel – andererseits aber der Weg zu Kongressen und Akten scheinbar so aufwendig zu sein scheint, dass die tatsächlich bewiesenen Inhalte in diesen hitzigen Gesprächen selten eine Rolle spielen. Geht in die Archive!
Gerade im psychiatrischen Bereich wurden natürlich die Euthanasie-Programme umfangreich aufgearbeitet, ich selber war bei mehreren Veranstaltungen, bei denen das der Fall war. Beispielsweise hat der ehemalige Leiter der Westberliner Rechtsmedizin, Professor Schneider, sich lebenslang unter anderem auch dafür eingesetzt, dass sein jüdischer Vorgänger in der Nachkriegsgesellschaft wahrgenommen und geehrt wird.
Kurz gesagt würde ich immer unterscheiden zwischen dem, was tatsächlich aktenkundig oder durch Spuren beweisbar ist und dem, was als naheliegend, logisch, vernünftig oder lebensnah gilt, tatsächlich aber weder Akteninhalt darstellt, noch einem Spurenabgleich standhält.
Dr. Mark Benecke ist Kriminalbiologe und Spezialist für forensische Entomologie. Bereits 2003 hatte er die einmalige Gelegenheit, Hitlers Zähne und Schädelfragmente forensisch zu untersuchen. Außerdem befasste er sich intensiv aus kriminalistischer Sicht mit den umfangreich vorhandenen Akten und Aufzeichnungen zu den Hauptpersonen des Nationalsozialismus und den Gerichtsprozessen der Nachkriegszeit.