Konservative Verbündete
Der ehemalige Tory-Politiker Rory Stewart kritisiert in seinen Memoiren die britische Demokratie, die Konservativen und lamentiert den wachsenden Populismus.
Als ich vor einiger Zeit anfing, den Podcast The Rest is Politics zu hören, wollte ich Rory Stewart unsympathisch finden. Er war ein Tory, wenn auch ein gemäßigter, aber dennoch ein Tory. Als ich schließlich ein begeisterter Hörer des Podcasts wurde, staunte ich zunehmend über Stewarts scharfsinnige Kommentare, und meine Bewunderung für ihn wuchs. Ich war ohne Grund voreingenommen und hätte es besser wissen müssen: Stewart verließ die Konservativen im Jahr 2019, nachdem er in einen Streit mit den Hardcore-Brexiteers um den damaligen Premierminister Boris Johnson geraten war.
Fasziniert von Stewarts Geschichten über seine Zeit im Nahen Osten und seinen eher abwertenden Schilderungen seiner Zeit als Politiker, beschloss ich, seine Memoiren Politics On the Edge zu lesen. Darin zeigt er, wie die "neue Ära des Populismus" nach und nach die liberalen Demokratien untergraben konnte und wie seine eigene politische Partei nicht entsprechend reagierte. Obwohl sich Stewarts Ausführungen hauptsächlich auf das Vereinigte Königreich beziehen, könnte er ebenso gut von Deutschland, Frankreich oder den Vereinigten Staaten sprechen.
Vom Irak nach Cumbria
Stewarts Weg in die Politik begann weit entfernt vom Vereinigten Königreich. Nach der Invasion des Irak im Jahr 2003, die Stewart zunächst unterstützte, wurde er zum Gouverneur einer der irakischen Provinzen ernannt. Dort erkannte er, wie die Auferlegung eines westlichen politischen und wirtschaftlichen Systems zum Scheitern verurteilt war. Nachdem er seine Lektion im Irak gelernt hatte, entschied er sich, "das zu bewahren, was einzigartig an Afghanistan war." Stewart und sein Team begannen, Schulen und Krankenhäuser zu bauen, Strom- und Wasserversorgungsanlagen zu installieren.
All dies, so Stewart, konnte erreicht werden, weil die westlichen Mächte nicht so stark eingegriffen hatten wie im Irak. Doch das sollte sich ändern. Je mehr sich die USA und Großbritannien einmischten, desto mehr wuchs der Widerstand in den lokalen Gebieten, und desto leichter wurde es für die Taliban, Unterstützung zu gewinnen.
Schließlich tauschte er Afghanistan gegen Cumbria, ein englisches County an der schottischen Grenze. Dort trat er 2010 für die Konservativen im Wahlkreis Penrith und die Border an und gewann überraschend das Mandat. Bald lernte er die vielen Hindernisse des modernen parlamentarischen Systems kennen. Als gewählter Abgeordneter für seinen Wahlkreis musste er sein Leben zwischen London und Penrith aufteilen. Als Tory-Hinterbänkler hatte er keinen Einfluss auf die Themen, die ihm wirklich wichtig waren.
Schnell stellte er fest, wie die Dynamik innerhalb seiner eigenen Partei seine eigene Abstimmung in wichtigen Fragen bestimmte. Obwohl er für bestimmte Anträge war, musste er gegen sie stimmen, weil sie von der Labour Party eingebracht worden waren. Stewart war kein Rebell, hatte aber sicher nicht das richtige Profil für die Tories. Aller Widrigkeiten zum Trotz wurde er zum Juniorminister für Umwelt und ländliche Angelegenheiten unter Liz Truss befördert, die ihn mehrfach warnte, nicht so interessant zu sein.
Not a bug but a feature
Unter Truss’ Führung erkannte Stewart schließlich, worum es in der Politik ging: Öffentlichkeitsarbeit und Parteitreue. Kein Abgeordneter würde aufgrund seiner Expertise zu einem bestimmten Thema befördert, vielmehr war das Gegenteil der Fall: Um zu verhindern, dass Minister·innen die Führung infrage stellten, wurden sie absichtlich ihrer Arbeitsgebiete beraubt. Als Stewart dann im Außenministerium arbeitete, schickte ihn der Minister Boris Johnson nach Afrika, obwohl Stewart eindeutig für Asien und den Nahen Osten qualifiziert war.
Wenn Minister·innen beliebig umgeschichtet werden können, sind sie vollständig auf die Arbeit der Staatssekretäre und Beamt·innen angewiesen, da "es mehr als unwahrscheinlich war, dass der Beste von uns solche riesigen, komplexen Abteilungen innerhalb eines Jahres meistern würde." Stewart wechselte so vom Umweltministerium über das Auswärtige Amt ins Gefängnisministerium.
Während Stewart also durch die Ministerien rotierte, musste er gleichzeitig seiner Pflicht als Abgeordneter seines Wahlkreises nachkommen. Nur mit großer Mühe gelang es ihm, die Minister in den Norden zu locken, um sich vor Ort ein Bild der Probleme zu machen. Doch in London stießen seine Ideen auf taube Ohren: Als er dem Finanzminister George Osborne bat, ihm 300 Millionen Pfund aus dem Haushalt zu geben, um die Luftqualität in den britischen Städten zu verbessern, wurde Stewart ausgelacht. Als dieser nachfragte, warum die Regierung bei dem Thema nicht führend sein will, antwortete Osborne, "weil wir die konservative Partei sind".
Stewart beschreibt, wie der Rechtspopulismus schrittweise Macht von der Partei ergriff. Die bekannteste Konsequenz dieser Entwicklung war der Brexit, den Stewart vehement ablehnte. Dennoch akzeptierte er das Ergebnis des Referendums, so dass er ins Kreuzfeuer der Brexiteers und der Befürworter eines zweiten Referendums geriet. Er unterstützte den Kurs von Theresa May, den größtmöglichen Schaden des Brexits abzuwenden. Sein ehemaliger Chef Boris Johnson durchkreuzte diesen Plan jedoch.
Umtrieben von der Angst, dass Johnson als möglicher neuer Parteichef Ministerpräsident wird, entschied sich Stewart kurzerhand, selbst als Vorsitzender der Tories zu kandidieren. Seine improvisierte und amateurhafte Kandidatur kam überraschend gut an und war vor allem außerhalb der Conservative Party erfolgreich. Doch die Parteimaschinerie entschied sich schließlich für Boris Johnson. Stewart wurde wenige Monate später aus der Partei ausgeschlossen.
In der Sache vereint
Sein Einblick in das Funktionieren der britischen Demokratie ist faszinierend und erschreckend zugleich. Und auch wenn sich viele Kritikpunkte auf das britische System zurückführen lassen, kann man doch einiges auf andere Systeme übertragen: Der Spagat zwischen nationaler und lokaler Politik der Abgeordneten, die Unmöglichkeit sich in alle Themen so einzuarbeiten, dass man ein gutes Verständnis von ihnen hat und die innerparteilichen Prozesse, um Karrieren zu ermöglichen oder zu verhindern.
In den Vereinigten Staaten wurden Stewarts Memoiren unter dem Titel How Not To Be a Politician veröffentlicht und ich stimme dieser Aussage nicht zu. Idealerweise sollten Menschen wie Stewart in den vorderen Reihen der Politik stehen, da ihre mitfühlende Haltung mehr als wertvoll ist. Ich habe meine Meinungsverschiedenheiten mit Stewart: Ich finde seine Haltung zur Sterbehilfe fragwürdig (er lehnt sie ab) und ich bin ein leidenschaftlicher Verteidiger des Republikanismus (er ist britischer Monarchist).
Doch in einer Zeit, in der Konservative zunehmend dem rechten Populismus verfallen, ist es gut, die humane Stimme eines sozial-liberalen Konservativen zu hören, dessen Hauptinteresse nicht die Höhe der Karriereleiter ist, sondern der sich kritisch mit seinen Positionen auseinandersetzt, um einen Unterschied zu machen. Diese Konservative sind Verbündete und keine Feinde.
Politics On the Edge
Rory Stewart
Penguin Books, 464 Seiten
~ 13 Euro