Warum die Moralfalle die Linken nicht mehr zu Wort kommen lässt
Bernd Stegemann sieht die politische Linke in einer Moralfalle. Kommt sie aus dieser nicht heraus, hat der Rechtspopulismus ein leichtes Spiel. Sein Lösungsvorschlag benötig Selbstreflexion
Dass es dem politisch linken Lager an einem neuen, praxisorientierten Narrativ fehlt und wie ein Weg aus diesem Dilemma heraus aussehen könnte, hat Julia Fritzsche uns in „Tiefrot und radikal bunt“ bereits eindrucksvoll geschildert. Für Aufbruchsstimmung ist also gesorgt.
Wie aber steht es um den Platz der Linken im parteipolitischen und gesellschaftlichen Diskurs um die Umsetzung ihrer Politik auf diesen Ebenen? Hier sind die Linken in den letzten Jahren in eine Falle getappt. In eine Falle, die den Rechten nicht nur in die Hände spielt, sondern die von ihnen inzwischen bewusst genutzt wird. In die Moralfalle.
Die Moralfalle im Status Quo
Der Autor Bernd Stegemann analysiert dieses Phänomen und zeigt auf, wie das passieren konnte. Im Wechsel zwischen banalen, für jede:n verständlichen Beispielen, und konkreter fachlicher Analyse schafft er es aufzudecken, durch welche Widerstreite soziale, linke Politik zum Spielball zwischen den Rechten und den Neoliberalen wurde.
Oder, wie es in Stegmanns Ausführungen heißt, zum „einsamen Hasen“ (S. 8), der aufgrund seines eigenen Moralismus zwischen den Igeln sitzt und nicht mehr handlungsfähig ist.
Wahrscheinlich wird sich jeder von uns, der in den letzten Jahren mit anderen über politische oder gesellschaftliche Themen diskutiert hat, an der ein oder anderen Stelle im Buch ertappt fühlen und dem inneren Impuls die Moralkeule schwingen zu müssen, kaum widerstehen können.
Genau hier lohnt es sich einmal genauer hinzuschauen, was einen so reagieren lässt. Allzu oft steckt man nämlich tatsächlich in festgefahrenen Paradoxien fest, deren Auflösung schier unmöglich ist. Bernd Stegemann schildert und erläutert einige dieser Paradoxien umfangreich und nachvollziehbar.
Ich denke, ich nehme nicht zu viel vorweg, wenn ich verrate, dass der Neoliberalismus in keinem der Exempel gut wegkommt. Im Zusammenspiel zwischen Macht und Kapital gelingt es der neoliberalen Ideologie spielend, die Gesellschaft zu entsolidarisieren und entfernt sich damit immer mehr vom ursprünglichen, bürgerlichen Liberalismus, dessen Ziele völlig andere waren.
Gleichzeitig werden laut Stegemann durch die Paradoxien des Neoliberalismus vordergründig zwei Reaktionen in der Politik und in der Öffentlichkeit hervorgerufen: Das Erstarken der Rechtspopulist•innen und das Erstarren der Linken im Moralismus.
Auch das Fehlen einer großen, gemeinsamen linken Erzählung schreibt der Autor in schlüssigen Zusammenhängen dem Verschmelzen der postmodernen Geisteshaltung mit der neoliberalen Politik zu – und trifft damit den Nagel auf den Kopf.
Der neue alte Klassenkampf
Im aktiven Diskurs wirken sich diese Widersprüche auf die Linken besonders negativ aus. Um das zu verdeutlichen, beleuchtet der Schreiber zwei Bereiche, die die politische Kommunikation heutzutage wohl am ausschlaggebendsten beeinflussen.
Es ist die Identitätspolitik gepaart mit der Political Correctness, die völlig gegen ihre ursprünglichen Absichten dazu geführt haben, dass die Gespräche zum Erliegen kommen – allerdings erst, nachdem sich die Stimmung durch den Moralismus emotional aufgeladen hat.
Rationalität hat hier keine Chance mehr, die Fronten verhärten sich. Ist die Kränkung erst einmal geschehen, ist eine Klärung kaum noch gewünscht. Die Gesellschaft spaltet sich in immer kleiner werdende Gruppierungen, man findet kaum noch Möglichkeiten, etwas im Kollektiv unter einen Hut zu bringen.
Bernd Stegemann liefert in diesem Abschnitt seines Buches eine hervorragende Analyse dieser Problematik und lässt dabei nicht außer Acht, dass neben den politischen Themen auch psychologische Faktoren und eine von sozialen Schichten abhängige Bildung enorm wichtige Rollen spielen.
Das wohl bekannteste Paradox, das auch der Autor häufig als Beispiel aufgreift, entstand vor einigen Jahren in der Flüchtlings-/Migrationspolitik. Wie kann man Menschen, die tatsächlich aus Existenzängsten pauschal gegen Zuwanderung sind, politisch abholen und von ihnen Solidarität einfordern, wenn diese Angst aufgrund der eigenen Moralvorstellungen gar nicht existieren darf, sondern einzig und allein auf unmenschlichem Gedankengut und Rassismus basiert?
Nicht nur an diesem Beispiel wird klar, dass es am Ende eben doch Klassenfragen sind, die hier gestellt werden müssen und auf die es dringend sozialpolitische Antworten braucht. Antworten, die die Linken nicht liefern können, solange sie in der Moralfalle stecken.
„Was tun?“, sprach Zeus
In den weiteren Abschnitten des Buches beschreibt der Autor die politische und öffentliche Kommunikation (ob im Bundestag, in Talk Shows oder Kommentarspalten) als Theaterstück in fünf Akten, wie es bereits auf den Bühnen des antiken Griechenlands stattfand – wobei wir uns laut ihm derzeit im 3. Akt befinden, es ist also noch nichts verloren. Die nächsten beiden Akte werden jedoch darüber entscheiden, auf welche Zukunft wir zusteuern.
Wenn wir wirklich eine Welt gestalten wollen, in der die tatsächliche Moral und ethische Werte nicht vom Moralismus untergraben werden, sieht Stegemann nur einen Ausweg. Der Autor plädiert für eine neue Aufklärung – und tatsächlich wird es diese brauchen.
An dieser Stelle hätte ich mir gewünscht, dass eine ebenso umfangreiche Ausführung zu diesem Lösungsansatz folgt, doch leider hält sich der Schreiber hier recht kurz und liefert keine konkreten Anregungen zur Umsetzung. Vielleicht liegt es daran, dass, wie er selbst es formuliert, „…selbst der Versuch, sich wieder der Realität zu öffnen, durch genau diese Moral verhindert wird.“ (S. 184).
Schlussendlich bleibt die Frage im Raum stehen, ob in unserer Gesellschaft genügend Menschen bereit sind, sich dieser Herausforderung zu stellen. Denn letztlich liegt es an jedem Einzelnen, seine Art der Kommunikation zu gestalten.
Die Antwort auf diese Frage wird entscheidend darüber sein, ob man weiterhin das „Absterben der utopischen Kraft“ (S. 49) hinnimmt, die es zur Umsetzung eines neuen Narrativs so dringend bräuchte, oder ob die Linke den Mut findet, ihre Ideale wieder zu verteidigen.
Einsicht ist der erste Schritt
„So benötigt die Moral die Unmoral um sich gegenüber der Amoral Gültigkeit zu verschaffen.“ (S. 42) bleibt nicht der einzige Satz in diesem Buch, an dem der ein oder andere zu knabbern haben wird.
Hin und wieder möchte man dem Autor vorwerfen, sich einer ähnlich emotional aufgeladenen Sprache zu bedienen, wie diejenigen, die er anprangert, jedoch muss man ihm zugutehalten, dass einem solchen „Ausbruch“ unmittelbar eine so klarsichtige, nüchterne Analyse des Themas folgt, dass sich die Gemüter rasch abkühlen.
Es mag einem vielleicht auch ebenso paradox erscheinen, wie die Beispiele im Buch, dass ausgerechnet Bernd Stegemann als Mitinitiator und Stratege der linken Bewegung „Aufstehen!“, die unter den Linken nicht nur für große Furore, sondern beinahe auch für weitere Spaltung sorgte, über die fatale Spaltung der Gesellschaft schreibt – jedoch wird man B. Stegemanns Analysen, zumindest was die Entstehung und die Existenz der Moralfalle angeht, beipflichten müssen.
Man muss inhaltlich auch keineswegs mit seinen politischen Ideen einverstanden sein, um zu erkennen, dass dieses gravierende Problem besteht und gelöst werden muss. Und so bleibt zu hoffen, dass man sich in Gesprächen zur Lösung dieser Kommunikations-Knoten nicht erneut in diesen Mustern verstrickt.
Trotz der Kritikpunkte eine absolute Leseempfehlung, die einem durchaus eine Portion Selbstreflexion abverlangen wird.
Die Moralfalle – für eine Befreiung linker Politik
Bernd Stegemann
Matthes & Seitz Berlin, 205 Seiten
18,00 Euro