Wenn das Volk das Volk rettet
In den spanischen sozialen Medien machte der Slogan "Nur das Volk rettet das Volk" die Runde. Was demokratisch erscheint, enthält jedoch eine gefährliche Komponente.

Im Oktober 2024 überschwemmte extremer Starkregen einige Dörfer der spanischen Comunitat Valenciana. Das Lebenswerk vieler Menschen wurde unwiderruflich zerstört und was noch viel schwerer wiegt: 236 Menschen verloren ihr Leben. Angesichts des Chaos und des Schlammes reagierte die valencianische Regionalregierung nur langsam. Viele Gebiete blieben über Tage abgeschnitten. Nur Dank der Hilfe freiwilliger HelferInnen begannen vielerorts die Aufräumarbeiten. Angesichts der Lähmung der Regierung machte schnell der Slogan "Solo el pueblo salva al pueblo" die Runde.
Nur das Volk rettet das Volk. Was auf den ersten Blick emanzipatorisch und demokratisch erscheint, ist eigentlich eine apolitische Aussage, die genauso ins Negative umschwenken kann. Dabei geht es nicht darum, die vielen freiwilligen HelferInnen in den Katastrophengebieten zu kritisieren. Doch es geht um eine genauere Analyse, warum der Satz “Nur das Volk rettet das Volk” eine gefährliche Komponente enthält, die sich keine neun Monate später zeigen sollte.
Nach einem Angriff migrantischer Jugendlicher auf einen älteren Mann im spanischen Torre Pacheco, bildeten sich rechtsextreme Mobs, die in dem Ort Jagd auf MigrantInnen machten. Erneut hieß es, dass nur das Volk das Volk rette. Die Institutionen würden die Menschen nicht schützen; nun sei eben Selbstjustiz gefragt. Die RechtsextremistInnen sahen sich als Verkörperung der volonté générale, dem Gemeinwillen nach Jean-Jacques Rousseau, der eben nicht die Summe der Einzelinteressen darstellt, sondern einen nicht genauer definierten Willen zum Wohle des Volkes.
Populismus per Definition
In der Populismusdefinition des Politikwissenschaftlers Cas Mudde spielt die volonté générale eine entscheidende Rolle, da er sie als Ausdruck des “reinen” Volkes gegenüber den korrupten Eliten sieht. Und wenn man den Worten des ehemaligen spanischen Politikers Pablo Iglesias Glauben schenkt, dann gleiche die liberale Parteiendemokratie eher einer Oligarchie (Herrschaft der Wenigen) als einer Demokratie (Volksherrschaft).
Der Populismus fordert also, das Machtmonopol auf das Volk zu übertragen. Die Masse, als moralische und intellektuelle Autorität, wisse selbst am besten, wie sie sich zu regieren hätte. Dies klingt erstmal demokratisch und emanzipatorisch - bis man sich umsieht und merkt, wie die Mehrheitsgesellschaft genau aussieht, die das Machtmonopol ausführen soll.
Wer diese ablehnende Haltung gegenüber den Massen als demokratiefeindlich liest, dem möchte ich folgende Frage entgegenwerfen: Sind Sie damit einverstanden, dass in dem aktuellen politischen und medialen Klima der Bundesrepublik, das deutsche Volk die BundesverfassungsrichterInnen direkt wählt?
Tyrannei der Mehrheit
Man kann sich nur allzugut ausmalen, welche Folgen dies hätte. Und wenn das Volk alle Posten der Exekutive, der Legislative und der Judikative per direkter Wahl bestimmt, dann ist dies auf dem Papier zwar sehr demokratisch, bedeutet aber gleichzeitig das Ende der Gewaltenteilung - wenn man davon ausgeht, dass die Mehrheit eine mehr oder wenige homogene Masse darstellt. In einer zunehmend polarisierten Welt ist dies jedoch immer wahrscheinlicher. In den Worten von Alexis de Tocqueville, überwacht die Mehrheit die Gesetze, die sie sich selbst gibt. Es handelt sich um die Tyrannei der Mehrheit - äußerst demokratisch und befreiend nur dann, wenn man der Mehrheit angehört. Es gilt dann Gerhard Polts Diktum: Niemand wird gezwungen, eine Minderheit zu sein. Jeder hat das Recht, sich zur Mehrheit zu bekennen.
Tatsächlich stünde es um die Minderheiten schlecht. Sie hätten keine Möglichkeit, auf die Mehrheit einzuwirken, oder gar ihr angetanes Unrecht anzuklagen. Linke mögen nun argumentieren, dass es sich bei der Minderheit um die ökonomische Elite handele. Doch ist dem wirklich so? Wäre es nicht eher so, dass die ökonomischen und medialen Eliten sich zu Demagogen entwickeln würden, um die öffentliche Meinung, und damit die Massen, zu lenken? Oder anders gefragt: Wie sähe es mit der Situation von ethnischen oder queeren Minderheiten im aktuellen politischen Klima der Bundesrepublik aus, wenn das Volk in allen Fragen das Sagen hätte?
Es braucht Institutionen, die die anderen Gewalten überwachen, geltendes Recht verteidigen und nicht Opfer der Launen der Mehrheit werden. Sonst droht, nach John Stuart Mill, die soziale Tyrannei. Schließlich kommt es nicht von ungefähr, dass Autokraten versuchen ebenjene Institutionen abzuschaffen oder zu kontrollieren. Eine gegenseitige Kontrolle der Gewalten soll so unmöglich gemacht werden. Außerdem sehen sie sich als Vollstrecker eines mehrheitlichen "Volkswillen", der keine Institutionen braucht - ganz im Gegenteil: sie stehen ihm sogar im Weg. Der Volks- oder Gemeinwille sei nämlich immer die Wahrheit. Er stelle eine moralische und intellektuelle Autorität dar.
ExpertInnen gefragt
Doch gerade die Themen "Pandemie" und "Klima" zeigen eindringlich, wie wichtig es für die Gesellschaft und die Politik wäre, auf individuelles Wissen in Form von ExpertInnen zu hören. In der politischen und demokratischen Entscheidungsfindung sollte Qualität statt Quantität gelten. Hätte man in der Corona-Pandemie auf basisdemokratische Entscheidungen gesetzt, hätte dies fatale Folgen für die Risikogruppen bedeutet. Es hätte schlichtweg kaum Maßnahmen gegeben, um die Pandemie einzudämmen. Selbst der bestgemeinte Einsatz kann dann fatale Folgen haben, etwa als die Helferinnen im Katastrophengebiet der Comunitat Valenciana den Schlamm ins Abwasser schaufelten.
Das Problem ist jedoch, dass das Individuum in der Postmoderne durch die Neoliberalisierung jegliches Abhängigkeitsverhältnis abzulehnen scheint. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey sprechen vom "gekränkten Subjekt". Schließlich wisse das Volk am besten, was für sich selbst am besten sei. Dabei geht es jedoch nie um alle, sondern um Mehrheiten bzw. einem diffusen Mehrheitsverständnis.
James Madison befürchtete, dass eine Gesellschaft, in der eine stärkere Fraktion eine schwächere unterdrücken kann, nichts anderes bedeute, als die Rückkehr zum Hobbesschen Naturzustand, in dem das Recht des Stärken gilt. Dieser Zustand kann nur durch einen Gesellschaftsvertrag, und folglich der Einrichtung von Institutionen, überwunden werden.
Institutionen als Demokratiegarant
Schließlich geben diese Institutionen Sicherheit vor der Willkür der Mehrheit und garantieren den Schutz und die Rechte eines jeden Einzelnen. Dafür muss man jedoch ein Abhängigkeitsverhältnis in Kauf nehmen, das einen mit individuellem Schutz und persönlichen Rechten belohnt. Es sind diese Mechanismen, die Minderheiten schützen und alle demokratisch als politische Subjekte an der Gesellschaft teilhaben lassen.
Dies setzt allerdings voraus, dass kompetente Menschen in den Institutionen arbeiten, die ihre Arbeit ernst nehmen, eng mit ExpertInnen zusammenarbeiten, um im Notfall entsprechend handeln zu können. Genau dies ist in Valencia nicht passiert. Die Institutionen haben versagt und tragen zum Vertrauensverlust in das System bei. Nichts gefährdet die Demokratie mehr als ein Staat, dessen Institutionen nicht mehr funktionsfähig sind und die Individuen, die davon abhängig sind, im Stich lässt. Wenn der Staat das Abhängigkeitsverhältnis einseitig aufkündigt, dann bleibt dem Volk nichts mehr übrig als das Volk. Und genau davor sollte uns grauen.