Die Leichen im Keller beinahe jeder deutschen Familie
Wie geht man damit um, wenn der eigene Vater Teil eines verbrecherischen Systems wie dem Nationalsozialismus war? „Vatertexte“ ist eine schonungslose Auseinandersetzung mit dieser Frage.
Wie geht man damit um, wenn der eigene Vater Teil eines verbrecherischen Systems war? Welche Spuren hinterlässt das nationalsozialistische Erbe in den nachfolgenden Generationen? Margret Müllers Buch „Vatertexte“ ist eine schonungslose Auseinandersetzung mit diesen Fragen – persönlich, literarisch und politisch. Sie erzählt von der Verstrickung ihres Vaters in den Nationalsozialismus, seinen Verdrängungsmechanismen nach 1945 und den Spuren, die all das in ihrer eigenen Biografie hinterlassen hat. Das Werk ist damit nicht nur eine intime Erinnerung, sondern auch ein aufrüttelnder Beitrag zur Debatte um Schuld, Verantwortung und Geschichtsbewusstsein.
Die verdrängte Schuld der Tätergeneration
Müllers Vater war Sturmbannführer der SA und erhielt seine Ausbildung in der Ordensburg Vogelsang, einer Kaderschmiede für die nationalsozialistische Elite. Er war also nicht „bloß Mitläufer“, sondern aktiver Teil eines Systems, das auf Rassenideologie, Gewalt und Vernichtung beruhte. Nach 1945 reiht er sich nahtlos in die bundesrepublikanische Gesellschaft ein – wie viele andere, die niemals zur Rechenschaft gezogen wurden.
Müller beschreibt, wie ihr Vater sich selbst entlastete, wie er seine Vergangenheit verklärte oder herunterspielte. Dabei verfängt er sich in den typischen Rechtfertigungsmechanismen der Tätergeneration: Er sei jung gewesen, habe nichts gewusst, sei ein unpolitischer Mitläufer gewesen. Diese Form der Selbsttäuschung ist kein individuelles Phänomen, sondern Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Problems, das die Bundesrepublik über Jahrzehnte prägte. Erst spät setzt eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ein – oft angestoßen durch die Kinder und Enkel der Täter.
Zwischen Liebe und Abscheu
Was Müllers Buch besonders eindrucksvoll macht, ist die ungeschönte Darstellung ihres eigenen inneren Konflikts. Als Kind liebt sie ihren Vater. Sie beschreibt Momente von Wärme, Vertrautheit, familiärer Nähe. Doch mit zunehmendem Wissen über seine Vergangenheit wächst auch ihre Ablehnung. Dieser Zwiespalt zwischen Zuneigung und moralischer Entrüstung ist schmerzhaft, aber notwendig. Denn er zeigt, wie sich die Schrecken des Nationalsozialismus in einzelnen Biografien festsetzen.
Müller reflektiert eindrücklich, wie sich die NS-Vergangenheit nicht nur in den offiziellen Narrativen der Tätergeneration fortsetzt, sondern auch in der Art und Weise, wie innerhalb der Familie über Geschichte gesprochen, oder eben nicht gesprochen, wird. Schweigen, Andeutungen, ausweichende Antworten: Diese Muster sind typisch für viele Familien, in denen NS-Täter nach 1945 weitgehend unbehelligt weiterlebten.
Transgenerationale Prägungen – auch ein antifaschistisches Thema
Die Autorin zeigt mit ihrem Werk, dass es keine klare Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt: Die mentalen Strukturen, die den Nationalsozialismus ermöglichten, wirken weiter – in autoritären Erziehungsmustern, in patriarchalen Familienstrukturen, in nationalistischen Denkmustern.
Diese Perspektive ist für eine antifaschistische Auseinandersetzung mit Geschichte essenziell. Sie macht deutlich, dass Faschismus kein abgeschlossenes Kapitel ist, sondern immer wieder neue Formen annimmt. Die Verdrängung der NS-Vergangenheit in vielen deutschen Familien hat nicht nur individuelle Folgen, sondern auch politische. Wer sich mit der eigenen Geschichte nicht auseinandersetzt, trägt dazu bei, dass rechte Ideologien sich erneut etablieren können. Müllers Buch ist daher nicht nur eine persönliche Spurensuche, sondern auch ein Warnsignal: Antifaschismus beginnt in der kritischen Reflexion der eigenen Prägungen.
Literarische Kraft und politische Notwendigkeit
Margret Müller hat mit „Vatertexte“ ein Werk geschaffen, das weit über ihre eigene Familiengeschichte hinausgeht. Es ist eine Mahnung, ein Weckruf und eine Aufforderung zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen.
Müllers Sprache ist präzise, oft schonungslos und zugleich poetisch. Sie setzt auf fragmentarische Erzählweisen, die das Zerrissene, Ungeklärte ihrer Auseinandersetzung widerspiegeln. Gerade diese stilistische Entscheidung macht das Buch so eindrücklich: Es gibt keine lineare Auflösung, keine endgültige Antwort auf die Frage, wie mit einer solchen Vergangenheit umzugehen ist. „Vatertexte“ ist ein schmerzhaftes und mutiges, aber auch notwendiges Buch, denn es zeigt auf, wie tief das NS-Erbe in die Nachkriegsgesellschaft hineinreicht und dass weder die gesellschaftliche noch die individuelle Aufarbeitung dieser Geschichte abgeschlossen ist.
In Zeiten, in denen rechte Kräfte wieder an Einfluss gewinnen und historische Verharmlosungen zunehmen, ist dieses Buch eine wichtige Erinnerung daran, dass Antifaschismus nicht nur bedeutet, sich gegen aktuelle rechte Bewegungen zu stellen. Er bedeutet auch, die eigene Geschichte zu hinterfragen, patriarchale und autoritäre Muster zu erkennen und sich dem Erbe des Faschismus entgegenzustellen.
Vatertexte
Margret Müller
Joanmartin Literaturverlag, 80 Seiten
15,00 Euro