„Der Nahost-Komplex“ – die mutige Aufbereitung eines heiklen Themas
Natalie Amiris Werk beschreibt die komplexe Lage im Nahen Osten und lässt Betroffene zu Wort kommen. Ein Blick ins Buch von Sabrina Teifel.
Der Physiker und Autor Prof. Brian Cox bringt es in seinem Buch „Forces of Nature“ sehr treffend auf den Punkt: “There are too many people in this world who want to be right. And too few who just want to know.” Cox bezieht sich mit dieser Aussage zwar auf wissenschaftliche Themen, aber wenn wir auf den Nahost-Konflikt blicken, begegnen wir diesem gesellschaftlichen Phänomen ebenfalls. Da wir in diesem Fall aber direkt über Menschenleben sprechen, ist diese Haltung vor allem eins: Perfide.
Und wenn man doch so jemand ist, der im Nahost Konflikt etwas wissen will, hat man es nicht leicht, denn man kann kaum eine Frage stellen, ohne allein für diese Frage sofort einem der Lager zugeordnet und entsprechend von der Gegenseite massiv und persönlich angegriffen zu werden. So beschreibt es auch Natalie Amiri in der Einleitung: „Wer sich zu Israel oder Palästina äußert, ist nicht Beobachter, sondern wird Teil des Diskurses – und der Diskurs ist längst Teil des Krieges.“
Ich selbst beschäftige mich aus persönlichem Interesse seit ca. 20 Jahren mit der Situation im Nahen Osten, der ja (was viele auch oftmals vergessen) bei weitem nicht nur aus Israel und dem Gazastreifen besteht und auch ich bin mehr als einmal in die Falle getappt, habe an der falschen Stelle Fragen gestellt und mir harsche Beleidigungen eingefangen. Jedes Mal habe ich meine eigene Meinung und mein eigenes Bild der Situation kritisch hinterfragt und wieder von neuem zu recherchieren begonnen. Umso gespannter habe ich Natalie Amiris neues Buch erwartet.
Kein Blick aus sicherer Entfernung
Für dieses Buch ist die Journalistin, die die Region ohnehin nicht nur aufgrund ihrer eigenen iranischen Wurzeln, sondern auch beruflich sehr gut kennt, nicht nur nach Israel, sondern auch in alle umliegenden Länder, in die es ihr möglich war, gereist und hat mit den Menschen vor Ort gesprochen. Lediglich nach Gaza konnte sie nicht vordringen und auch im Iran war Amiri 2019 zum letzten Mal. Danach hatte es eine Warnung des Auswärtigen Amtes vor einer möglichen Geiselnahme Amiris gegeben, weshalb sie nicht mehr als Korrespondentin im Iran eingesetzt wird und dort nicht mehr einreisen kann. Dort hat die Autorin aber natürlich noch reichlich enge Kontakte, die ihr weiterhin ermöglichen, sich ein umfassendes Bild über die Situation im Land zu machen.
Ihre Reise durch den Nahen Osten, genauer gesagt durch die Länder Israel, Syrien, in die kurdische Region Rojava, den Libanon und in das Westjordanland konnte man auf Instagram verfolgen, wo die Autorin regelmäßig eindrucksvolle Bilder in ihrer Story teilte. Auch heute kann man die Bilder noch in den Highlights auf ihrem Instagram-Profil einsehen, was es einem ermöglicht, zu dem, was man da liest, auch tatsächlich Bilder vor Augen zu haben. Natalie Amiri lässt in ihrem Buch die Menschen der Region zu Wort kommen, stellt Fragen, ohne zu werten und lässt die sprechen, die tagtäglich erleben, was wir hier nur in ausgewählten Zusammenschnitten in den Nachrichten sehen.
Eine auch für Lesende herausfordernde Reise
Als Leser*in des Buches beginnt die Reise im ersten Kapitel mit dem schrecklichen Terroranschlag der Hamas am 07. Oktober 2023. Amiri hat mit Familien und Freunden von Todesopfern und Geiseln gesprochen und auch mit einem ehemaligen Medienschaffenden aus Gaza, der noch zu Beginn des Krieges dort gelebt hatte. Sie schreibt über die Frage, ob dieses grausame Attentat hätte verhindert werden können und darüber, was diese Ereignisse für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu bedeuteten. Besonders interessante Einblicke in die politischen Verstrickungen liefert das Interview mit Ehud Olmert, der von 1993-2003 Bürgermeister von Jerusalem war und 2006 nach Ariel Sharons Schlaganfall die Regierung Israels führte, bis er 2009 seinen Rücktritt ankündigte und nur noch im Amt blieb, bis unter Netanjahu eine neue Regierung gebildet werden konnte. Im Westjordanland lässt die Autorin (radikale) Siedler*innen zu Wort kommen und wirft einen Blick auf die Unterschiedlichkeit der Leben der dortigen Einwohner*innen, bevor sie in Ostjerusalem am „Jerusalem-Tag“, dem israelischen Nationalfeiertag, teilnimmt, wo jedes Jahr rechtsgerichtete Siedler, extremistische und fundamentalistische Gruppierungen aufmarschieren und es regelmäßig zu Ausschreitungen und Gewalt kommt.
Noch bevor Natalie Amiri uns in die umliegenden Länder mitnimmt, widmet sie ein Kapitel der Berichterstattung der deutschen Medien in Bezug auf den Nahost-Konflikt. Ein schwieriges Kapitel, das sie, wie Amiri selbst schreibt, lange vor sich hergeschoben hat, denn hier ist auch sie nicht mehr nur Beobachterin, hier ist sie Beteiligte. Aber sie will dieses heikle Thema auch nicht auslassen und Dank ihrer Fähigkeit, auch ihr eigene Handeln in dieser Hinsicht zu reflektierten bekommt man hier ein fundierte Perspektive auf den Umgang der deutschen Medien mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza.
Auf der weiteren Reise durch die gebeutelte Region erklärt die Autorin zunächst die Zusammenhänge der Länder, die die „Achse des Widerstands“ gegen Israel bilden und die sich wie eine Schlinge um Israel zusammengezogen und mit der Hisbollah eine der größten Bedrohungen geschaffen haben und diese direkt oder indirekt unterstützen. Sowohl der Iran als auch Syrien und natürlich der Libanon, um den es im nächsten Kapital gehen wird, spielen hierbei entscheidende Rollen. Amiri wirft außerdem einen kritischen Blick auf die Befreiung Syriens vom Assad Regime und den Folgen für das Land und die Region, spricht in Rojava mit Kurdinnen, die sich vom Westen verraten fühlen und vor allem die Rechte der Frauen in der Region gefährdet sehen. Nicht zuletzt nimmt sie uns noch einmal tiefer mit in den Iran und stellt die Frage, wie sehr der 12 Tage Krieg mit Israel dem Regime geschadet hat und was das für die Bevölkerung bedeutet.
Bei der Frage „Wie schwer ist Frieden?“ gibt die Autorin unter anderem Noa, die bei dem Attentat am 07. Oktober ihren Freund verloren hat, Raum, ihre Gedanken und Gefühle mit uns zu teilen und beinahe genauso emotional schließt das Buch mit einem Kapitel über ein gemeinsames Abendessen mit Margot Friedländer, deren Abschiedsworte an Natalie Amiri sind: „Jetzt seid ihr dran! Es ist für euch, ich kann es nicht mehr machen. Ihr müsst es machen…“ und diese Worte treffen wohl nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu.
Lasst euch darauf ein und lest das!
Handwerklich besitzt das „Der Nahost-Komplex – von Menschen, Träumen und Zerstörung“ die hohe journalistische Qualität, die man von Natalie Amiri gewohnt ist. Wo immer es notwendig ist, untermauert sie alles mit (historischen) Fakten und fügt Quellen an, lässt nichts unhinterfragt stehen und schafft es gleichzeitig, den Menschen, mit denen sie für dieses Buch gesprochen hat, ohne Voreingenommenheit zu begegnen und lässt sie ihre persönlichen Geschichten und Sichtweisen frei schildern.
Schon in der Einleitung schreibt Natalie Amiri: “Ich schreibe und weiß zugleich: Für viele Leserinnen und Leser wird schon die erste Seite darüber entscheiden, ob sie dieses Buch als Versuch verstehen, Komplexität abzubilden, oder als Angriff auf die eigene Position.“ und auch, wenn Natalie Amiris Werk für viele Lesenden sicher herausfordernd sein mag, war es für mich unglaublich heilsam. Ich kann dieses Werk nur allen wärmstens an Herz legen, denen es wirklich um ehrliche Einblicke und um die Betroffenen vor Ort geht. Darum, zu verstehen und die dafür auch bereit sind, die Gleichzeitigkeit der Dinge auszuhalten und die nicht nur wie bei einem Fußballspiel fanatisch eine Mannschaft um jeden Preis zu unterstützen wollen. Denn der Nahost-Konflikt ist kein Spiel, es ist ein Krieg, der Generationen von Menschen prägt und unzählige Menschenleben in allen Ländern in der Vergangenheit gefordert hat, noch immer fordert und auch in Zukunft noch fordern wird.
Und wenn ich mich unbedingt auf eine Seite stellen muss, dann ist das die Seite der Menschen in der Region, die nichts anderes wollen, als in Frieden zu leben und die Opfer in Kriegen werden, die nicht die ihren sind.
Der Nahost-Komplex von Natalie Amiri
Erschienen am 08.10.2025
im Penguin Verlag, 416 Seiten
erhältlich für 25,00 Euro




